Die Beteuerung, dass Bücher so etwas seien wie Lebensmittel gehört zu dieser Kategorie. Denn natürlich ist das Verspeisen von bedrucktem Papier bei uns allenfalls als mäßig belustigende Bühnenshow noch üblich. Und in einer Gesellschaft, in der die vermeintlich allgemeine Verbreitung von Schreib- und Lesefähigkeiten für gegeben erachtet wird, kommt auch das Bildungsargument nicht allzu leichtfüßig aus den Startblöcken.
Anders in Mexiko nach der Buchmesse in Guadalajara sind wir immer noch hier unterwegs und haben gerade einen Abstecher nach San Cristóbal de las Casas hinter uns, der Hauptstadt des Bundesstaats Chiapas im äußersten Süden des Landes. Chiapas ist bei uns aus den Nachrichten bekannt als Unruheprovinz, seit in den Neunziger Jahren die Indio-Bewegung der Zapatisten um den Führer Subcomandante Marcos den Forderungen nach Landreform und gerechterer Verteilung der wirtschaftlichen Erträge aus Landwirtschaft und Rohstofferzeugung massiv Nachdruck verliehen hat.
Auch heute noch weisen am Eingang vieler Orte Hinweisschilder darauf hin, dass die betreffende Region sich den Zapatisten angeschlossen hat, die Militärpräsenz ist weiterhin äußerst deutlich sichtbar. Trotz aller Versprechungen gilt aber weiterhin, dass Chiapas der ärmste der mexikanischen Bundesstaaten ist. Wer wissen will, wie solche Strukturen zustande kommen, dem sei die Lektüre von Eduardo Galeanos Die offenen Adern Lateinamerikas (Hammer) empfohlen.
In San Cristóbal also, um zu unserer Geschichte zurück zu kommen, exisitiert seit rund 30 Jahren eine bemerkenswerte Initiative, die es tatsächlich geschafft hat, das Schlagwort von den Büchern als Lebensmitteln mit Leben zu erfüllen: Taller Leñateros, die Werkstatt der Waldmenschen, stellt höchst originelle, wunderschöne und äußerst begehrenswerte Bücher her. Das beginnt bei dem verwendeten Material: In den Bergen um San Cristóbal herum sammeln Indio-Frauen Bruchholz und Palmwedel und die Knollen des Maguey-Kaktus und tragen Altkleider zusammen, die gegen ein geringes, aber willkommenes Entgelt aufgekauft werden. Aus diesen Hauptbestandteilen wird das Papier für die Einbände und den Korpus der Bücher gewonnen. Rund 130 Frauen verdienen sich auf diese Weise ein Zubrot in einer Gegend, in der bis heute ein großer Teil der Menschen in Holzhütten lebt, ohne Stromversorgung und Zugang zu sauberem Wasser, ist dies eine große Tat.
Buch und Schrift haben bei den Maya-Völkern eine lange Tradition, die von der spanischen Conquista und vom katholischen Eifer der Inquisition abgeschnitten wurde: Nur vier der kostbaren Maya-Codices haben das Wüten der Eiferer überstanden, denen die Texte, die geschichtliches ebenso wie landwirtschaftliches und mathematisches Wissen übermittelten, als gottlos erschienen.
Die Texte der wunderschönen Bücher des Taller Leñateros sind der zweite Teil der fruchtbaren Arbeit: Zum einen werden seit Jahren traditionelle Erzählungen der im Umland von San Cristóbal ansässigen Maya-Völker gesammelt und in Schriftform gebracht. Zum anderen werden die Indio-Frauen dazu ermutigt, ihre persönlichen Geschichten zu erzählen oder aufzuschreiben. Dadurch wird nach und nach eine sozialgeschichtliche Chronik der jüngeren Zeit zusammengetragen, die für das Selbstverständnis der Indios von großer Bedeutung ist. Der Taller Leñateros veröffentlicht außerdem die Literaturzeitschrift La Jicara (Kalebasse), die auch Texte von Reisenden durch die Region veröffentlicht. Als drittes Element kommen Schreib- und Lesekurse hinzu, die von Freiwilligen in der Region abgehalten werden.
Vom Sofa in Pasing, Sülz oder Sachsenhausen aus betrachtet mögen solche Initiativen als Gutmenschentum erscheinen, das für Außenstehende von wenig Belang ist. Aber: Die Aktivisten von Taller Leñateros legen an ihre Bücher rigorose Qualitätsmaßstäbe an. Äußerlich betrachtet, können die Bücher mit dem Besten mithalten, was Handpressen in Deutschland produzieren. Inhaltlich bieten sie Einblicke in völlig unbekannte Lebenswelten, Traditionen und Weltanschauungen, die auf erfrischend un-esoterische Weise die Verbindung von Mensch und Natur darstellen und das Bemühen, im Einklang mit der Natur zu leben. Die soziale Bedeutung für die Stärkung von Identität und Selbstbewusstsein der beteiligten Indio-Frauen ist erst recht nicht hoch genug zu schätzen.
Bücher können also doch das Leben positiv verändern. Womit ich mich mit einer guten Nachricht zum Weihnachtsfest von Ihnen für kurze Zeit verabschiede. Ich wünsche Ihnen von Herzen alles Gute, Erfolg und Gesundheit und ich wünsche Ihnen weiterhin die Neugier, über die Tellerränder des Bekannten hinaus zu schauen und zu lesen!
Holger Ehling war Leiter der Unternehmenskommunikation sowie stv. Direktor der Frankfurter Buchmesse und berichtet seit rund 20 Jahren als Reporter und Korrespondent für das Börsenblatt über die Buchmärkte der Welt.