Die Kanzlerin spricht davon, dass dem Aufbau Ost nun der Ausbau West folgen müsse. Vielerorts sei die Infrastruktur im Westen schlechter als im Osten. Ja, da mag sie recht haben, denn die Entwicklung Ostdeutschlands ist über zwei Jahrzehnte vor allem als ein Problem der Verkehrswege behandelt worden. Doch was helfen all die Steuermittel für breite Autobahnen, neue ICE-Strecken und sanierte Innenstädte, wenn die Menschen dort keine Arbeit haben, wenn die Betriebe verschwinden? Das ist nicht nur eine Frage der Chipindustrie, die gerade 3.000 Arbeitsplätze in Dresden abbaut, sondern auch ein Problem der Buchbranche. Die Entscheidung, mit dem Brockhaus-Verkauf an Bertelsmann zugleich den Redaktionsstandort Leipzig komplett zu schließen und die Arbeit nach Gütersloh zu verlagern, bedeutet nichts weniger, als einen der größten Verlagsarbeitgeber im Osten zu liquidieren. Man mache sich das bewusst: Die 60 Mitarbeiter (48 unbefristete, zwölf befristete Verträge) bildeten die große Ausnahme unter den verbliebenen Verlagen, sie waren das Flaggschiff der Region. In der alten Buchstadt Leipzig gibt es überhaupt nur noch drei Editionshäuser, die mehr als 20 Mitarbeiter beschäftigen. In der gesamten Branche sind heute weniger als ein Zehntel der früheren Verlagsmitarbeiter der DDR-Zeit beschäftigt.
Sechs Monate zuvor hatte der Gustav Fischer Verlag, der nach Jahren bei Holtzbrinck nun zu Reed Elsevier gehört, das traditionsreiche Stammhaus in Jena geschlossen und die verbliebenen zwölf Mitarbeiter entlassen. Im Oktober ging der Altberliner Kinderbuchverlag, nach abenteuerlichen Aufenthalten in München und Hamburg zuletzt in Leipzig ansässig, in die Insolvenz. Im Leipziger Büro des Insel-Verlags sind gerade noch zwei Personen beschäftigt, und keiner weiß, wann dort das Licht ausgeht. Beim Verkauf des Aufbau-Verlags sind acht Mitarbeiter »freigesetzt« worden. Die Liste ließe sich fortführen. Da klingt es geradezu wie ein Wunder, wenn die Stuttgarter Verlagsauslieferung KNO nach dem Kauf ihres Mitbewerbers LKG in Leipzig beteuert, die Firma an ihrem Standort erhalten und mit ihrem Profil fortführen zu wollen. (Über Stelleneinsparungen wird später geredet.)
Die Ereignisse der letzten Monate müssen im Lichte einer im Ansatz verfehlten Privatisierungspolitik im Zuge der deutschen Einheit betrachtet werden. Das Bundesfinanzministerium und seine Treuhandanstalt setzten damals nicht auf Sanierung und möglichen Erhalt von Unternehmen, sondern auf zügige Vermarktung, egal unter welchen Umständen und zu welchen Konditionen. Da wurden Verlage veräußert, über die man gar nicht verfügen durfte, da wurden ausländische Interessenten abgewiesen und direkte Konkurrenten bevorzugt, da wurde verschleudert, dass es nur so krachte. Viele Häuser wechselten den Eigentümer für die symbolische eine Mark, Hauptsache, es ging schnell. Gern glaubte man die Versprechen der neuen Eigentümer, man werde den Stand-ort erhalten, soundsoviel Mitarbeiter mindestens fünf Jahre beschäftigen und eine Summe in Millionenhöhe investieren. Überprüft hat das dann niemand. 1994 wurde die Treuhandanstalt aufgelöst.
Das Ergebnis ist ein radikaler Abbau der produktiven Kapazitäten im Osten Deutschlands. Die hier ansässigen Verlage (einschließlich der Neugründungen und Zuzüge) geben lediglich noch 2,2 Prozent der jährlich erscheinenden Buchtitel heraus (Berlin nicht mitgerechnet). Ihr Umsatzanteil an der Gesamtbranche liegt unter einem (!) Prozent. Wenn der Aufkauf Ost im Tempo der letzten Monate so weitergeht und Arbeit zunehmend gen Westen verlagert wird, dann braucht die Kanzlerin sehr bald ein neues Konjunkturpaket für eine abgehängte Region. Zum Glück ist diese dann über breite Straßen gut zu erreichen.
Ist für Leipzig der Beiname Verlagsstadt noch zutreffend?
Im März erscheint von Christoph Links »Das Schicksal der DDR-Verlage« (Ch. Links)