Interview

»Rückhalt für die schnellen Medien«

2. Januar 2009
Redaktion Börsenblatt
Noch bevor das Jahr begonnen hatte, wurde es schon abgeschrieben. Die Wirtschaft stehe am Abgrund, die Menschheit am Scheideweg ... Und das Buch? Das Börsenblatt hat nachgefragt – aber nicht bei einem Wirtschaftsweisen, sondern bei Albrecht Koschorke. Er ist Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz und gilt als einer der innovativsten Geisteswissenschaftler in Deutschland.
Wirtschaftsprognosen malen ein düsteres Bild für 2009, überall scheint sich Untergangsstimmung auszubreiten. Mit welchen Erwartungen beginnen Sie das neue Jahr? Koschorke: Für den Weltuntergang selbst wird 2009 vermutlich kein besonders wichtiges Datum sein. Auf jeden Fall hat aber die Finanzkrise dazu beigetragen, dass der gesellschaftliche Reizschutz durchbrochen ist. Das heißt? Koschorke: Wir können nicht mehr verleugnen, welche Last an humanitären, sozialen, ökologischen und nicht zuletzt Staatsschulden sich aufgetürmt hat und immer weiter auftürmt. Denn der Zusammenbruch der Finanzmärkte und von Teilen der Wirtschaft lässt sich ja – wenn überhaupt – nur dadurch abwenden, dass wir noch höhere Zwangsanleihen bei künftigen Generationen aufnehmen. Die öffentlichen Gelder, die nun in einer aberwitziger Größenordnung zur Stabilisierung eines durchgedrehten Systems bereitgestellt werden, werden anderswo fehlen. Das Unheilvolle an der Situation ist, dass eine Krise, die durch kurzsichtiges Handeln hervorgerufen wurde, jetzt durch entsprechend kurzfristige Maßnahmen bekämpft werden muss. Niemand, der ehrlich ist, weiß sicher, wohin das führen wird. »Krise kann ein produktiver Zustand sein. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen«, sagte einst Max Frisch. Wie sehen Sie das? Koschorke: Ich bezweifle, dass diese Unterscheidung so funktioniert. Natürlich müssen wir versuchen, so produktiv wie möglich mit der gegenwärtigen Situation umzugehen. Aber den “Beigeschmack der Katastrophe” wird man ihr nicht nehmen können. Schon jetzt wirken sich die Folgen der Finanzkrise auf Teile der Weltbevölkerung, besonders in den ärmsten und Schwellenländern, katastrophal aus. Die Leute wissen ja gar nicht, wie ihnen geschieht. Da sind irgendwo im Westen abstrakte Milliardenbeträge leichtsinnig verspekuliert worden, daraufhin brechen Investitionen und Konsum ein, was wiederum zur Folge hat, dass in weit entfernten Weltteilen Fabriken schließen und Staaten – darunter Atomwaffenstaaten wie Pakistan! – an den Rand des Kollaps geraten. Es besteht also ein fugenloser Übergang von der Krise zur Katastrophe. Und was andere Problemfelder angeht, etwa die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit, so befinden wir schon seit Jahrzehnten mitten in der Katastrophe, mittendrin. Auch wenn uns das Wohlstandspolster in Europa vorläufig noch davor schützt, das in vollem Umfang wahrzuhaben. Könnte 2009 auch ein Jahr des Umbruchs und Neuanfangs werden? Koschorke: Das wird sich kaum vermeiden lassen! Wir haben es ja, was die globalen Finanzmärkte angeht, nicht mit einem Betriebsunfall mit einigen wenigen “Schuldigen”, sondern mit einer echten Systemkrise zu tun. Das betrifft letztlich – nennen wir ihn doch beim Namen – den Kapitalismus als ganzen, der dadurch nicht besser wird, dass es keine Alternative mehr zu ihm gibt. Ich erinnere nur an die dramatisch wachsende Ungleichverteilung der Einkommens¬chancen innerhalb der Industrieländer und zwischen Nord und Süd – auch das ist nichts Neues, dringt aber jetzt wieder ins kollektive Bewusstsein durch. Die Rolle des Staates muss neu definiert werden, weil die nationalstaatliche Ordnung nicht ausreicht, um globale Entwicklungen einzuhegen. Eine zweischneidige Angelegenheit: Wir wollen vielleicht eine Weltwirtschaftsregierung, die Spekulation kontrolliert, Kapitalflucht in Steueroasen unterbindet, soziale und ökologische Mindeststandards erzwingt. Aber wollen wir angesichts der massiven Zunahme von staat¬licher Überwachung auch eine Weltpolizei? Die Lage wird dadurch noch schwieriger, dass die westliche Kombination von freier Marktwirtschaft mit Demokratie ihre Attraktivität und ihren Modellcharakter verliert. Ich glaube, wir fangen erst sehr langsam an zu begreifen, dass kaum etwas bleiben wird, wie es war. Da gibt es reichlichen Stoff zum Umdenken. Welche Rolle spielt Kultur in Zeiten wie diesen? Koschorke: Als Kulturwissenschaftler müsste ich mich eigentlich darüber freuen, dass das Wort “Kultur” in aller Munde ist. Angeblich werden inzwischen ja sogar Kriege aus kulturellen Gründen und entlang religiös-kultureller Bruchlinien geführt. Aber ich denke, man sollte den Faktor `Kultur´ nicht überstrapazieren – jedenfalls nicht, solange man so etwas wie `kulturelle Identität´ mit einem gemeinsamen Vorrat an Normen und Werten im Auge hat. Bei aller Feier von kultureller Identität einerseits, Diversität und Differenz andererseits darf man übrigens nicht vergessen, wie stark sich in der Moderne weltweit die faktischen Lebensverhältnisse aneinander angleichen. Solange man Kultur mit Folklore verwechselt, beharrt man auf einer letztlich touristischen Perspektive. Wenn man jedoch den Begriff der Kultur etwas niedriger hängt und darunter den Modus versteht, in dem Gesellschaften mit Unvorhersehbarem und Unberechenbarem umgehen und sich sozusagen von sich selbst überraschen lassen, ändert sich das Bild. Diese Art von Kultur – als Fähigkeit, sich mit Hilfe von Symbolen in einer Welt der Ungewissheiten einzurichten – gewinnt gerade mit dem Verlust fester kultureller Maßstäbe an Gewicht. Wenn es heute etwas im Überfluss gibt, dann ist es Ungewissheit. Und wo steht das Buch? Koschorke: Gesellschaften in Krisenzeiten träumen gern von guten alten Zeiten. Und so ist jetzt bei uns viel von einer Renaissance bildungsbürgerlicher Lebensformen die Rede. Aber an den langfristigen Trends wird die gegenwärtige Wirtschaftskrise nichts ändern: dem relativen Bedeutungsverlust der alten, buchkulturell geprägten Bildungselite und dem Aufstieg neuer Funktionseliten mit neuen, flüchtigeren Kommunikationsstilen. Man sollte beide Sphären nicht voneinander abkapseln, sondern die Verbindungswege zwischen ihnen durchlässig halten. Ähnlich wie die Internet-Blogs und Chatrooms letztlich von den Nachrichtenmagazinen und damit vom professionellen Journalismus abhängig sind, wird auch das professionell gemachte Buch ein unentbehrlicher Rückhalt für die schnelleren Medien bleiben. Wohin Entprofessionalisierung und hemdsärmelige Unbelesenheit auf breiter Front führen, haben nicht zuletzt acht Jahre Bush-Regierung gezeigt. Jetzt ist eine Gegenströmung der Re-Professionalisierung spürbar, die nicht nur den entstandenen Graben zwischen der Politik und den akademischen Institutionen verkleinert, sondern vielleicht auch der Kultur des lesenden Nachdenkens wieder größere Wertschätzung verschafft. Um über den Tag hinaus zu denken, muss es Zonen der Verlangsamung, des Gedankenexperiments, des Spiels mit möglichen Welten geben. Das Buch als Konsumersatz in Zeiten, in denen man sich kein neues Auto mehr leisten kann: Ist das denkbar? Koschorke: Das halte ich für unwahrscheinlich, solange man mit Büchern nicht fahren kann. – Im Ernst: Bücher und Autos können sich nicht wechselseitig ersetzen, aber mit Blick auf die schrumpfenden Ölvorräte würde ich eher auf die Zukunft von Büchern als von Autos wetten. Wie finden kreative Branchen wie die Buchbranche ihren Weg durch die Krise? Koschorke: Es sind ja erstaunliche Dinge im Gange. Die Bundesregierung will einen Teil der zusätzlich ausgeschütteten Milliarden in Bildung und Forschung zu investieren. Offenbar ist die `Wissensgesellschaft´ tatsächlich zu einer ernsthaften politischen Plangröße geworden. Die deutschen Schulen haben – von den Hauptschulen abgesehen – den Tiefpunkt ihrer Entwicklung hinter sich, an den Universitäten ist trotz vieler Widrigkeiten ein neuer Enthusiasmus zu spüren. Das intellektuelle und kreative Potenzial in Europa insgesamt ist gewaltig, die Strukturbedingungen sind in der Breite viel besser als etwa in den USA. Vielleicht lässt sich daraus eine allgemeine Aufbruchstimmung erzeugen, die von der Krise, die uns harte Jahre bringen wird, trotz allem nicht gelähmt, sondern beflügelt wird.