Interview mit Tilmann Lahme

"Er hatte einen melancholischen Humor"

8. Januar 2009
Redaktion Börsenblatt
Golo Mann, drittes Kind Thomas Manns, wäre am 27. März 100 Jahre alt geworden. Zum Jubiläum legt der Historiker und Germanist Tilmann Lahme die erste Biografie vor, die hinter die Fassaden der öffentlichen Person blickt (bei S. Fischer ab 11. März, 450 S., 24,95 Euro). Im Interview mit Wolfgang Schneider spricht Lahme über Golo Mann und sein Buch. Mehr über den Sachbuch-Frühling erfahren Sie im aktuellen Börsenblatt, das heute erscheint.
Herr Lahme, die große Krise ist über uns gekommen, 2009 soll das Jahr der schlechten Nachrichten und des Katzenjammers werden. Ist der Melancholiker und Geschichtsskeptiker Golo Mann, dessen 100. Geburtstag in Kürze fällig ist, die Leitfigur der Stunde? Der richtige Autor für dieses Jahr? Tilmann Lahme: Wenn man meint, in der Krise muss man Optimismus verbreiten, dann vielleicht nicht. Wenn man dagegen einen etwas traurigen, realistischen, aber nicht lustvoll in den Abgrund schauenden Blick sucht, der sich nicht von Blendwerk täuschen lässt – dann ist Golo Mann der richtige Autor für schwere Zeiten. Er war eben kein radikaler Pessimist oder Defätist. Dass sein 100. Geburtstag in ein Krisenjahr fällt, hätte ihm wahrscheinlich selbst gefallen. Für die Jüngeren ist Golo Mann oft kein Begriff mehr, obwohl die „Familie Mann“ so präsent ist in den Medien. Wie war seine Rolle in der Familie? Wenn man ihn in der Familienkonstellation sieht, dann muss man sagen: Er hatte es ein wenig schwerer, und es ist vielleicht nicht schlecht für das literarische Werk, wenn man es ein wenig schwerer hat. Thomas Mann hat ihn als Kind einfach nicht gemocht. Dann aber hat er doch zunehmend Respekt vor ihm bekommen. Golo war der einzige unter den Söhnen und Töchtern, der einen Studienabschluss schaffte und dann auch noch den Doktortitel, das hat dem Vater schon sehr imponiert. Zunehmend schätzte er Golos politischen Sachverstand. Er wurde zeitweise zu Thomas Manns politischem Berater. Golo Mann gilt als großer Konservativer – aber stimmt das überhaupt so durchgehend für sein Leben? Es ist eine seiner Hauslegenden, dass er von Anfang an Antimarxist gewesen sei. Das ist eine zurechtgeschobene Haltung, die er sich als Memoirenschreiber zugelegt hat. Er war ja früh bei der sozialistischen Studentengruppe in Heidelberg und hat da aktiv gegen die Nazi-Studentenschaft gearbeitet. Und wenn man sich die Dokumente aus der Zeit ansieht, sein Tagebuch, seine Reden und Texte – er ist der Familiensozialist, das ist ein Stück Rebellion. Das entwickelt sich schon in Salem, wo er gegen den konservativen Schulgeist opponiert und beinahe aus dem Internat fliegt. Und er war der einzige unter den Mann-Kindern, der wirklich Theorie gelesen hat. Ja, absolut. Trotzki: mit großer Begeisterung. Marx nicht so, der war ihm zu arrogant, das hat er nicht gemocht, wenn jemand meinte, er sei allwissend und könne das Gesetz aller Gesetze aufstellen. Thomas Mann definierte seine flexible politische Haltung einmal durch ein Bild: Wenn der Kahn links kentert, wende ich mich nach rechts – und umgekehrt. Sieht es bei Golo ähnlich aus? Ja, er ist ein Nonkonformist, der gern das Gegenteil von dem denkt und tut, was die Meinungsmacher gerade als richtig empfehlen. Ein Mann der Ambivalenz, auch im Verhältnis zu den USA. Sehr dankbar einerseits, was dieses Land geleistet hat im Zweiten Weltkrieg, was es getan hat für die Emigranten. Aber voller Abscheu in der McCarthy-Ära und ein ganz früher Kritiker des Vietnam-Krieges. Aber wenn es dann in den siebziger Jahren heißt, Intellektuelle müssen links sein, wendet er sich lieber Franz Josef Strauß zu. Zehn Jahre später, als die Wiedervereinigung auf dem Plan ist, nähert er sich wiederum der kritischen Position Oskar Lafontaines an und schreibt bösartige Sätze über Helmut Kohl ins Tagebuch: „dieses blöde Mondgesicht“, so etwa. Eine kuriose Mischung: Auf der einen Seite ist er konservativ, aber niemals national oder patriotisch. Mit den Sozialisten hat er das europäisch-internationale Denken gemeinsam. Er fügt sich in kein Lager ein; man kennt es eher anders herum, dass Linke zugleich starke Patrioten sind, wie Rudolf Augstein oder Egon Bahr. Wo setzen Sie in Ihrer Biographie neue Akzente? Wie lernen wir Golo Mann neu kennen? Es ist so, dass man ihn, der in persönlichen Dingen sehr zurückhaltend war, eigentlich nur als öffentliche Person kennt. Auch seine Autobiographie kommt ja eher gebremst daher – das ist kein wirklich offenes Buch. Golo Mann hat lange überlegt, wie er das schreiben soll und kam irgendwann zu dem Schluss: Ich muss das machen wie André Gide, radikal ehrlich. Und dann hat er es natürlich nicht so gemacht. „Erinnerungen und Gedanken“ ist eher radikal andeutend geworden. Auch Urs Bitterli hat in seiner vor einigen Jahren erschienenen Biographie das Privatleben Golo Manns noch weitgehend ausgespart. Da fehlen also bisher wichtige Aspekte, in deren Licht sich manches doch anders darstellt: die dunklen Seiten, das Brüchige, Widersprüchliche, die Auseinandersetzung mit den eigenen Neurosen. Der höfliche Golo Mann konnte sehr krass verurteilen. Horkheimer und Adorno hat er in einem späten Interview schlicht als „Lumpen“ bezeichnet. Die Horkheimer-Adorno-Affäre ist das längste Kapitel in meinem Buch. Das muss man ausführlich machen und erst einmal die Tatsachen rekonstruieren. Das ist eine unglaublich verwickelte Geschichte und eine sehr hässliche. Es ist definitiv so, dass Adorno und Horkheimer mehrfach versucht haben zu verhindern, dass Golo Mann an die Frankfurter Universität berufen wurde. Zum ersten Mal so um 1959 herum, mit dem Argument, er sei homosexuell und deshalb der Jugend nicht zumutbar. Später wurde er als latenter Antisemit bezichtigt. Weshalb dieses Mobbing? Adorno und Horkheimer waren die Intellektuellen Nummer eins in Frankfurt. Golo Mann war auf einer Linie, die ihnen politisch nicht lag, und er stand für eine gewisse Theoriefeindlichkeit. Diesen Mann mit seiner untadeligen Vergangenheit im Dritten Reich in der eigenen Stadt zu haben – das sahen sie als Gefährdung ihrer Machtposition. In einer Epoche der Theoriebesessenheit hat Golo Mann fast trotzig auf der erzählenden Geschichtsschreibung beharrt. Das verschafft ihm heute, wo britische Historiker für ihre gut lesbaren, publikumsfreundlichen Darstellungen deutscher Geschichte gerühmt werden, doch neue Aktualität? Ganz bestimmt. Bei Golo Mann ist von Anfang an die große Sehnsucht da, selbst Schriftsteller zu sein und das zu verbinden mit der Historie. Geschichte so zu schreiben, dass sie lesbar ist wie ein Roman – das ist das Programm. Er erlebt seinen persönlichen Durchbruch, als er weiß: „Ich bin Historiker, aber auch Schriftsteller, das geht zusammen!“ Im übrigen ist das eine typisch deutsche Neigung, am Publikum akademisch vorbeizuschreiben: Wissenschaft darf nicht stilistisch elegant und gut lesbar sein. Auch in dieser Hinsicht ist Golo Mann eher international. Wie gestaltete sich die Homosexualität im Leben Golo Manns? Bitterli hat in seiner Biographie geschrieben: Da sei nichts gewesen, das homosexuelle Begehren sei platonisch geblieben, „wie beim Vater“. Das ist eine Legende, die immer wieder aufgegriffen wird. Zum Glück kann man sagen: Ganz so schlimm und einsam ging es in Golo Manns Leben dann doch nicht zu. Es gibt durchaus Zeiten glücklicher Verliebtheit. Der Punkt ist: Es hält nie. Einmal schreibt er resigniert: „Die heiraten irgendwann ja doch alle“ – um sich anders in der Gesellschaft zu positionieren. Golo aber ist immer auf der Suche nach einem wirklichen Partner, der ihm auch intellektuell Anregungen gibt, ganz anders als Thomas oder erst recht Klaus Mann. Klaus ging, wenn die Familie Mann zu Besuch beim Fischer-Verlag war, nicht mit den anderen in die Chefetage, sondern in den Keller zu den Packern. Irgendwann hatte er dann Hausverbot. Golo Mann gilt als Melancholiker, als einsamer, trauriger Mann. Ist das also zum Teil ein Klischee? Die Melancholie ist sozusagen die Basis. Aber gerade weil er die Einsamkeit schwer vertrug, war er auch ein sehr geschickter Freundessucher, jemand, der Freundschaften sehr gepflegt hat. Die Familienbindungen waren für ihn ganz wichtig. Er hat immer versucht, aus der Depression herauszukommen. Er weiß, was ihm gut tut: Geselligkeit, Freundschaften, politisches Engagement als Vortragsredner, Kontakt mit jungen Leuten. Und natürlich das Werk. Die Melancholie ist die Grundtatsache seines Lebens. Aber er versinkt nicht darin. Er macht was draus, er kämpft sein Leben lang dagegen an. Hatte er Humor? Mit Kritik konnte er nur schlecht umgehen, und im Gespräch hatte er wohl wenig Selbstironie. Dazu hatte er einen zu kritischen Blick auf sich selbst und hat zu sehr mit sich selbst gehadert. Wenn da noch Kritik von außen hinzu kam, das vertrug er nicht. Da war er übrigens dem Vater auch sehr ähnlich. Aber er hatte einen melancholischen Humor – über Wilhelm Busch hat er einen schönen Text geschrieben. Welches ist Golo Manns erfolgreichstes Buch? Die „Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“. Das ist ein Longseller, bis heute über eine Million Mal verkauft. Es dürfte wenige historische Bücher geben, die erfolgreicher sind. Was ist noch zu entdecken von Golo Mann? Unpubliziert sind bisher die Tagebücher, die übrigens nicht im Stil des Vaters geschrieben sind, sondern inspiriert von Friedrich Hebbel. Das sind hochinteressante Texte, vor allem auch die frühen Jahre, 1931-40, im europäischen Exil: Sehr politisch, nur versteckt persönlich. Da ist Golo Mann ja wirklich ein hellsichtiger Emigrant, der sich wenig Illusionen macht, anders als viele andere, die die Wirklichkeit mit ihren linken Schablonen sehen: Hitler als letztes Aufgebot des demnächst zusammenbrechenden Kapitalismus... Jedenfalls kann ich nur dafür werben, dass das endlich mal herausgegeben wird. Überhaupt gibt es einiges zu tun. Die großartige frühe Friedrich Gentz-Biographie, sein leidenschaftlichstes Buch, ist nicht mehr auf dem Markt. Es gibt keine Werkausgabe... Ich hoffe, dass der 100. Geburtstag da etwas in Bewegung bringt.