Veranstaltungen

Die Stapel mit den Müllerwerken schrumpften, dass es eine Buchhändlerfreude war

12. Januar 2009
Redaktion Börsenblatt
"Die Menschheit braucht ein neues Wozu“ – dieser von Heiner Müller geäußerte Satz, zurückgehend auf seine Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsche, war der Titel einer szenischen Lesung, die vergangenen Freitag zum 80. Geburtstag des Autors in der Akademie der Künste stattfand.
Heiner Müller wird vermisst. Zwar werden seine Stücke nicht mehr so oft gespielt wie in den achtziger Jahren. Aber die Sehnsucht richtet sich auch weniger auf den Dramatiker als auf die Figur des souverän räsonierenden, ebenso zynischen wie empfindlichen Intellektuellen, die in ihm die ideale Verkörperung gefunden hatte. So war der große Saal der Berliner Akademie der Künste am Hanseatenweg, der bei manchen literarischen Veranstaltungen sehr leer wirken kann, am Abend von Müllers 80. Geburtstag so gut besetzt wie lange nicht, und draußen auf den Fluren gruppierten sich die Müllerfans vor Leinwänden zum Public Viewing. Geboten wurde unter dem Titel „Die Menschheit braucht ein neues Wozu!“ eine szenische Lesung aus Müllers „Gesprächen“, die soeben zum Jubiläum in drei Bänden zu je tausend Seiten als Abschluss der Müller-Werkausgabe des Suhrkamp-Verlags erschienen sind. Der Autor meinte einmal, man solle seine Texte von Kindern lesen lassen. Weil die sie nicht verstünden, würden sie am deutlichsten. Ganz so weit ging die Konzeption dieses Abends unter der Leitung von Hans Neuenfels nicht. Aber es sollten keine Schauspieler sein, die mit ihren erprobten Stimmen die Müller-Texte zum Klingen brächten, sondern eher ungeübte Vorleser, in diesem Fall: einige Dutzend mülleraffine Prominente aus dem Kunst- und Literaturbetrieb, aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik, darunter Peter Sloterdijk und Klaus Theweleit, Durs Grünbein und Heinz Dürr, Nike Wagner und Elke Heidenreich. Sie alle lasen Müllersche Reflexionen, Erinnerungsfragmente und Gedankensplitter. Als erster setzte Gregor Gysi an und verhaspelte sich prompt – ausgerechnet beim Wort „Diktatur“, das ihm aus unerfindlichen Gründen quer im Mund lag und zu „Kandidatur“ verrutschte. Der Saal amüsierte sich; Gysi ging mit Pokerface darüber hinweg. Müllers Kapitalismuskritik kam, wen wundert’s angesichts der Finanzkrise, an diesem Abend bestens an beim Publikum. Der Kommunismus, der nach der gar nicht enden wollenden Blamage des Kapitalismus inzwischen schon nicht mehr so alt aussieht wie noch vor kurzem, war für den Autor allerdings weniger eine gefestigte Ideologie als das „Material des Jahrhunderts“ – so wie für die mittelalterlichen Maler die Passionsgeschichte. Müllers eigene politische Passionsgeschichte erforderte das „Leben im Material“, sprich: in der DDR, der er aus ästhetisch-dramatischen Gründen den Vorzug gab. Als prominenter Freigänger der DDR konnte er auf seinen Westreisen genug Vergleiche anstellen, um sich über den zutiefst maroden Zustand seines Landes keine Illusionen zu machen. Hellsichtig bemerkte er zu Zeiten der Vereinigungseuphorie: Gesamtdeutschland werde schwächer sein als die Bundesrepublik, geschwächt durch die DDR. Auch biographische Schlüsselszenen wurden gelesen. Als Vierjähriger (er selbst stellte sich schlafend) erlebte Heiner Müller 1933 die Verhaftung seines Vaters, der ein Jahr lang im KZ Sachsenhausen interniert wurde. In dieser traumatischen Erfahrung sind tiefe Wurzeln seines Geschichtspessimismus zu finden, seiner Vorstellung der Welt als Schlachthaus und Ort sich ständig fortzeugender Gewalt. Nach der Entlassung des Vaters zog die Familie von Sachsen nach Mecklenburg, wo sich der Junge von den Gleichaltrigen gemobbt fühlte und Zuflucht in der Literatur suchte. Einer seiner Hauptantriebe fürs Schreiben – so formulierte er es zumindest in einem der vorgetragenen Gesprächsfragmente – war das Rachebedürfnis. Der sich als unsanft traktiertes Objekt der Geschichte erleben musste, macht sich schreibend zum Subjekt und lässt die Puppen nach seiner Vorstellung tanzen. In einem der Gesprächszitate setzte sich Müller ab von bürgerlichen Thomas Mann. Der habe sich nicht nur als Schriftsteller, sondern noch „beim Teetrinken“ zum „Repräsentanten“ stilisiert. Dabei lässt sich das Beispiel leicht ins Müllermäßige wenden: Als gescheit plaudernder, Anekdoten aus dem Weltbürgerkrieg erzählender Whiskytrinker und Havannaraucher wurde er selbst zum Repräsentanten. Der Autor ist das Kunstwerk: mit einem Gesicht, das etwas von einer gültigen Skulptur des Intellektuellen im Kalten Krieg hatte. Dazu dunkles T-Shirt, Knitterjacket, das zurückgestrichene, stirnbetonende Haar und die dickgerandete Brille aus VEB-Hornimitat. Widerlegt wurde an diesem Abend Elfriede Jelinek, die in ihrem eigens für diese Veranstaltung geschriebenen Text die Auffassung vertrat: „Dieser Dichter lässt uns nichts zu lachen übrig.“ Das Publikum ließ sich an diesem Abend Müllers relaxten Geschichtspessimismus in Heiterkeit gefallen. Viel wurde gelacht, oft gab es Pointenapplaus. Und der Büchertisch war umdrängt nach der Veranstaltung. Die Stapel mit den Müllerwerken schrumpften, dass es eine Buchhändlerfreude war.