1977 haben Sie damit begonnen, Ihre Aufzeichnungen aus den Akademiejahren 1966 bis 1972 zu ordnen. Warum hat es mehr als 30 Jahre gedauert, die Lehrtätigkeit von Joseph Beuys in Buchform zu dokumentieren?
Johannes Stüttgen: Die Niederschrift konnte nur etappenweise erfolgen, da meine Arbeit zum Beuys-Gesamtprojekt "erweiterter Kunstbegriff" weiterging. Diese Arbeit ganz zu blockieren, war völlig ausgeschlossen und wäre auch absurd gewesen. Es gab zwischendurch sogar Zeiten, insbesondere nach dem Tod von Joseph Beuys 1986, in denen ich das Buchprojekt schon abgeschrieben hatte.
In der Vorbemerkung zum Buch schreiben Sie, dass die Lehrtätigkeit von Beuys ein "Kunstwerk" sei. Wie ist das gemeint?
Stüttgen: Joseph Beuys war nicht Künstler und außerdem noch Lehrer. Er war als Lehrer Künstler. Dies zu vermitteln, ist die Intention meines Buches. Seine Lehrtätigkeit war die Demonstration der Entzündung von Kunst in jedem, der es mit Beuys als Lehrer zu tun hatte durch Aktionen, permanente Gespräche, durch das Aufbrechen etablierter Systemstrukturen. Und mit dem Ziel, die Akademie, ja das gesamte Schul- und Hochschulwesen aus der Staatsumklammerung zu befreien. Für dieses Ziel hat Beuys alles auf eine Karte gesetzt. Die Bedingungslosigkeit seines Vorgehens führten zu einer Energieform, die im Ganzen nur als Kunstwerk begreifbar ist.
Ihr Buch "Der ganze Riemen" hat 1050 Seiten. Sie zeichnen darin die Ereignisse an der Kunstakademie, aber auch zahlreiche Meinungsbeiträge von Beuys selbst auf, oft als direktes Zitat. Wie originär und genau sind die Beuyschen Aussagen?
Stüttgen: Wörtliche Zitate von Beuys im urheberrechtlichen Sinne sind von Aussagen, die ich aus der Erinnerung niederschrieb, typographisch ausdrücklich unterschieden. Erstere sind mit Quellenangaben versehen, letzere gehen allein auf meine Kappe. Es sind persönliche Erinnerungen, die ich oft sofort notiert habe, Sätze mit wortwörtlicher Wucht, die einschlugen und die man nie vergisst. Dann gibt es ganze Gesprächsabläufe, nachträglich neu gefasst, bei denen es auf die charakteristische Abwicklung der Inhalte ankam.- Wenn man so will: Dramaturgische Rekonstruktionen, immer mit der authentischen Musik im Ohr.
Als Meisterschüler waren Sie Beuys sehr nahe und haben intensiv an der Gründung der "Deutschen Studentenpartei" und der "Organisation direkter Demokratie" mitgewirkt. Wie und in welchem Sinn darf man den Künstler Joseph Beuys als "politischen Kopf" bezeichnen?
Stüttgen: Joseph Beuys war kein "politischer Kopf" im üblichen Sinne, er war weder Künstler noch Kulturrepräsentant, der sich auch "politisch engagierte", wie das immer so schön heißt. Wie Kunst und Lehrtätigkeit für ihn eins waren, waren Kunst und Politik für ihn unvereinbare Gegensätze. Als menschengemäße Gestaltungsmethode hat bei Beuys einzig die Kunst Anspruch auf Gültigkeit und zwar generell für sämtliche Felder menschlicher Arbeit. Was aber ist dann eigentlich Kunst? Das war seine provokante Kernfrage. Die Neubestimmung ihres Begriffs, so seine Antwort, liefert den Schlüssel für die Neubestimmung aller Begriffe wie Freiheit, Demokratie, Kapital, Ökonomie. Es braucht eine Weile, um diesen Gedanken zu begreifen, und noch eine längere, seine Notwendigkeit einzusehen. Reif ist die Zeit dafür jetzt allemal.