Nicht nur der Amazonas-Regenwald, sondern auch der "steinerne Wald" Sao Paulo (von den Bewohnern "Selva de Pedra" genannt) bietet eine erstaunliche Vielfalt – in der Megalopolis arbeiten Kreative aus allen Sparten und Künsten, darunter auch eine große Zahl interessanter, renommierter Verleger, Autoren und Übersetzer.
Donnerstag, 17. September, vierter Tag:
Am Morgen bringt uns ein Van in ein Gewerbegebiet. Erstmals fahren wir über einen Höhenzug, von dem aus sich das Häusermeer Sao Paulos überblicken lässt. Nach mehreren Runden stoppt unser Fahrzeug vor einem großen Firmengelände, der Druckerei IBEP, die zugleich den Bildungsverlag Editora Nacional beherbergt. Bevor wir Verlag und Druckerei besichtigen (dort lagern jede Menge frischgedruckte Schulbücher), erfahren wir Einiges über die brasilianische Druckindustrie und ihren Verband ABIGRAF, in dem 4.600 Unternehmen Mitglied sind. Brasilien gilt in der Druckbranche als die Nummer 1 in Südamerika. Die großen Druckbetriebe wie IBEP Grafica (Jahresumsatz: 60 Millionen Dollar), die zugleich in der Interessenvertretung Graphia organisiert sind, arbeiten auf dem Stand der aktuellen Technik und erfüllen soziale und ökologische Standards, wie man sie von europäischen Unternehmen kennt.
Beim Mittagessen lernen wir den Verleger Angel Bojadsen kennen, der nicht nur ein Kenner der brasilianischen Verlagsszene ist, sondern mit seinem Verlag Estaçao Liberdade ("Station Freiheit") zu den wichtigen Vermittlern deutscher und japanischer Literatur in Brasilien gehört. Bojadsen ist mit seinem Verlag Mitglied im Verlegerverband LIBRE (Liga Brasileira de Editoras), in dem sich mehr als 100 Independents zusammengeschlossen haben. Bei Estaçao Liberdade erscheinen moderne und zeitgenössische deutsche Autoren wie Klaus Mann, Elias Canetti, Heinrich Böll, Christa Wolf oder Peter Handke, aber auch Bücher von Christoph Ransmayr und Ulrich Peltzer in portugiesischer Übersetzung. Einen wachsenden Anteil nimmt die japanische Literatur ein – kein Wunder, denn allein in Sao Paulo leben 500.000 japanisch-stämmige Brasilianer.
Der Kinderbuchverlag Callis in der Rua Oscar Freire steht am Nachmittag auf dem Programm – ein Haus, das mit vielen Reihen (auch in anderen Sprachen) erfolgreich ist. Callis engagiert sich auch sozial: das Kammerensemble Camerata Callis, das während unseres Besuchs Mozart probt, gibt Kindern aus sozial schwachen Elternhäusern die Chance, ein Instrument zu spielen.
Eine der vielversprechendsten Neuunternehmungen ist der 1996 von Charles Cosac und Michael Naify gegründete Verlag Cosac Naify. Sein Programm bringt neben Klassikern (in Übersetzungen) und zeitgenössischen Autoren vor allem Bände zu Kunst, Theater, Fotografie, Design und vielem mehr. Lektor Cassiano Elek Machado und Sintia Mattar, die für Lizenzen verantwortlich ist, zeigen uns eine Reihe von Büchern – beispielsweise einen Bildband zu Pina Bausch oder einen Fotoband zu Henri Cartier-Bresson. Es sind schön gemachte Bücher, deren Ästhetik Vieles übertrifft, was in Europa oder den USA als Buch verkauft wird. Ein Problem allerdings hat der engagierte Verlag: Er produziert mehr gute Bücher als er verkaufen kann. Viel zu viele Titel liegen auf Lager, sagt Sintia Mattar.
Die Dämmerung bricht ein, als wir die Praça da Sé im Zentrum der Stadt erreichen, um den Universitätsverlag Sao Paulo (UNESP) zu besuchen. Auf dem Platz vor dem Dom steht nicht nur eine Bronzestatue des heiligen Paulus, der der Jesuitenniederlassung im Jahre 1554 ihren Namen gab, - hier versammeln sich alle möglichen Menschen, um andere zum Glauben zu erwecken (evangelikale Prediger), um irgendetwas an den Mann zu bringen oder schlichtweg um zu übernachten. Die Buchhandlung UNESP, in der wir erwartet werden, hat bereits ihre Läden geschlossen. Schließlich gelangen wir über einen Seiteneingang ins Gebäude, wo uns Verlagsgeschäftsführer Jézio Hernani Bomfim Gutierre empfängt. Er leitet zugleich das im selben Haus untergebrachte Instituto Confucio, das Kurse zur Philosophie des chinesischen Denkers anbietet und mit der Universität Hubei in China kooperiert.
Gutierre entpuppt sich im Gespräch als hervorragender Kenner der Gegenwartsphilosophie – auch der Frankfurter Schule. Überhaupt ist das Interesse an europäischer und speziell deutscher Philosophie groß in Brasilien. Schon am Vortag, als wir bei Imprensa Oficial zu Gast waren (ein Verlag, der unter anderem täglich das Gesetzblatt des Staates Sao Paulo druckt), staunte ich über die komplette Übersetzung des "Passagenwerks" von Walter Benjamin in einem Band. Der Verlag Editora Unesp hat bei Suhrkamp die Rechte für die Adorno-Werkausgabe erworben und bringt nun Jahr für Jahr neue Bände des deutschen Philosophen auf Portugiesisch heraus. Auf der Wunschliste Gutierres stehen noch andere große Namen: So hat er inzwischen Interesse an den Rechten für das Werk Jürgen Habermas' signalisiert.
Paulus, Konfuzius, Adorno an der Praça da Sé – drei Namen, die symbolisieren, wie weitgespannt die Interessen, und wie vielfältig die kulturellen Einflüsse in Sao Paulo sind.