Literaturnobelpreisträgerin zu Gast im Mediacampus Frankfurt

Herta Müller diskutiert mit Buchhändler-Azubis

3. November 2009
von Börsenblatt
Volles Haus in Seckbach: Gestern Abend las Schriftstellerin Herta Müller vor 140 Schülern und Dozenten des Mediacampus Frankfurt und stellte sich anschließend deren Fragen. Die Schüler hatten zunächst befürchtet, Müller werde nicht kommen, weil sie nun sehr berühmt sei, worauf Müller meinte: "Der Preis ist ja für meine Bücher, nicht für meine Person" und versichterte: "Ich werde nicht abheben – dafür habe ich schon zuviel erlebt."

Und dann las sie: "Eintropfenzuvielglück für Irma Pfeiffer", das erste Kapitel "Vom Hungerengel", in dem noch behauptet wird "Der Hunger ist kein Gegenstand" und "Vom Lagerglück". Herta Müllers klar konturierte Aussprache mit dem gerollten R machte die schneidend kalte Lageratmosphäre greifbar: "Schon Ende Oktober schneite es Eisnägel in den Regen." In der prallvollen Campusmensa hätte man sie fallen hören können, die Eisnägel.

Nach der Lesung stellten sechs der 19 Auszubildenden aus der Herta-Müller-AG die vorbereiteten Fragen. Seit Ende September hatte Literaturdozent Osama Ishneiwer mit ihnen an dem Ziel gearbeitet, "einen Abend mit der Autorin zu verbringen und Lektüre zu lernen." Statt auf das "Feuilleton-Gequatsche" habe er sich mit seinen Schülern auf das Werk konzentrieren wollen. Begeistert war Ishneiwer von der Zusammenarbeit mit dem Carl Hanser Verlag, der das Projekt von Anfang an intensiv begleitet und mit 80 Leseexemplaren für alle Campus-Schüler unterstützt habe.

Herta Müller ging auf alle Fragen ausführlich ein und überraschte die Schüler mit ihren Antworten. Entlang der Fragen erläuterte sie den Erstehungsprozess des Werks und breitete ihre Poetik aus.

Die Bedeutung ihres Kollegen und Freundes Oskar Pastior für das Werk wurde deutlich. Er, der im Lager lebte, war nicht nur Informant, sondern mit ihm zusammen entstand das Werk aus den Fragen ihrerseits und dem Erinnern seinerseits. "Wir haben uns gegenseitig angeheizt." Und dann sei das Wechselspiel des  Fragens und Erinnerns in einen gemeinsamen poetischen Prozess umgeschlagen: "Dann fingen wir an zu erfinden." Zum Beispiel, dass eine Warze auf der Hand gut passen würde. "Wir haben konstatiert, dass wir das Buch schon eine Weile zusammen schreiben." Hochpoetische Begriffe wie der Hungerengel seien von Pastior gekommen. "Er hatte dieses Monster im Kopf, er hatte diese Personifizierung des Hungers nötig, um sich gegen ihn zu positionieren", erzählt sie ergriffen. "Wenn man sich nicht positioniert, hat man resigniert."

Beinahe hätte sich der Schmerz Bahn gebrochen, als Herta Müller allein am Tisch da oben auf dem Podium von Pastiors plötzlichem Tod erzählte. Sie habe zuerst nicht weitermachen wollen. Aber Oskar Pastior habe "so viel investiert in das Erzählen", dass sie es schließlich doch tat. "An den Konkret-Kapiteln mit den Arbeitsabläufen" und den Beschreibungen habe sie sich festhalten können. Die große Aufgabe habe darin bestanden, die Personen auszufüllen und Beziehungen herzustellen. Als sie "die zweite Stufe des Alleinseins" erreicht habe und sich gesagt habe: "Ich bin nur ich, ich bin nicht mehr wir", sei sie mutiger geworden, habe sich "an seiner Person entlang geschrieben" und dann all das "durchgerüttelt". So sei das Buch entstanden.

Auf die Frage nach den Möglichkeiten und Begrenzungen der Sprache antwortete Herta Müller ganz entschieden, dass die Welt des Erlebens und die Welt des Beschreibens verschiedene Bereiche seien. "Ich glaube auch nicht, dass wir uns während des Erlebens mit Wortmachen beschäftigen. Für die meisten Dinge, die wir tun, brauchen wir keine Wörter." Nur, wenn man etwas erzählen wolle, brauche man sie. "Dann muss ich mit dem Erlebten in den total künstlichen Bereich der Wörter gehen." Und dann ist Präzision wichtig. "Dann muss ich wollen, dass das klar wird, was ich beschrieben habe." Mit dem Titel Atemschaukel habe sie jedoch ganz bewusst ein Wort gesucht, von dem man nicht wisse, was es sei, "damit viel hineinpasst."

Erstaunt haben die AG-Teilnehmer Hertas Müller Antwort auf die Frage aufgenommen, was die Hauptfigur Leo im Lager am Leben gehalten habe. "Das Überleben. Das reicht. Man muss nicht glücklich sein, um gerne zu leben. Man muss kein eigenes Leben haben, um gerne zu leben. Nur eines, das noch nicht zu Ende ist." Für die Figur Leo habe sich nie die Frage nach Suizid gestellt. Vielleicht habe der Hungerengel Leo am Leben gehalten.

Die Auszubildenden haben an diesem Abend erfahren können, was ein Werk zu einem herausragenden Werk der Literatur macht: Ein Thema: "Meine Mutter war auch im Lager", eine Poetik: "Details statt Begriffe" und eine existentielle Lebensauffassung: "Das Überleben reicht."

Gut gelaunt zogen nach der Diskussion alle um von der Mensa in das Campus-Café Libresso und  griffen zu Snacks und Drinks. Aber zuvor rauchte Herta Müller noch schnell eine Zigarette.