Wie nah ist Ihnen die Erfahrung der Teilung heute noch?
Die Erfahrung ist präsent, weil sie Fragen beinhaltet nach Erinnerung, Orten, Gedächtniskultur. Mein Anliegen war es – auch angesichts der Erinnerungswelle – einen literarischen Raum zu öffnen, der darauf hinweist, dass diese Grenze keine Naturkatastrophe, sondern eine plausible Konsequenz des Zweiten Weltkriegs war.
Sie waren acht Jahre alt, als Sie mit Ihrer Mutter und den Geschwistern 1978 in die Bundesrepublik ausgereist sind. "Die Kompassnadel für das Wort 'drüben' hatte ihre Nordung verloren", schreiben Sie in der Einleitung Ihres Buchs "Grenzübergänge". Wie prägend war und ist das für Ihr Leben?
Die Erfahrung der Bespitzelung, nachdem meine Mutter den Ausreiseantrag gestellt hatte, die verliert sich nicht, im Gegenteil, das strukturiert spätere Erfahrungen vor. Wir waren dann neun Monate in einem Flüchtlingslager, ohne Besuch empfangen zu dürfen, der nicht vorherige Anträge ausgefüllt hätte. Wir hatten kein soziales Leben mehr, während für andere Menschen die Mauer gar keine Bedeutung hatte.
Und jetzt, 20 Jahre nach dem Fall der Mauer?
Ich glaube, dass sich einerseits sehr viel verändert hat. In Städten wie Berlin gibt es eine Durchmischung, hier ist sehr viel Schönes, Konstruktives, Neues zu sehen. Aber sobald man in die Provinz fährt, bekommt man eine Idee davon, warum es so schwierig ist, als Land zusammenzuwachsen. In der DDR hatten viele Menschen ein fast infantiles Verhältnis zum Staat, eine große Erwartungshaltung. Das ist nicht einfach mit dem Fall der Mauer verschwunden. Ich denke, dass die DDR tiefere Spuren hinterlässt, als sich das viele im Westen vorstellen können.
Auch für viele Ihrer Kollegen war die Mauer nur ein Randphänomen. Sie erzählen davon in "Grenzübergänge" und es spricht viel Enttäuschung daraus ...
Ich war nicht so sehr überrascht, dass die Mauer für viele nicht so wichtig war, aber ich war enttäuscht davon, dass der Mangel an Erfahrung nicht zu einem Thema geworden ist.
Aber warum sollte das geschehen? Ist das nicht eine vermessene Annahme?
Ich verurteile das nicht, aber ich bedauere es. Worauf es mir ankam, war, zu zeigen, welch unterschiedliche Bedeutung die Grenze für Menschen im Osten und im Westen hatte. Die provozierende, vermessenere Frage wäre vielleicht: Warum sind nicht 2 000 Menschen von westlicher Seite auf die Mauer losgestürmt, um sie niederzureißen, sondern haben mit dem Rücken zu ihr gestanden – mit Blick nach Westen?
Interview: Holger Heimann
Ein Extra zum Thema "Mauerfall vor 20 Jahren" finden Sie in Börsenblatt Heft 37.