Interview mit Dirk Baecker

"Bücher müssen nervöser werden"

19. November 2009
Redaktion Börsenblatt
Der Kulturtheoretiker und Ökonom Dirk Baecker behauptet eine Formatkrise der Bücher. Er sieht hohen Konkurrenzdruck durch andere Medien – und neue Akteure am Markt, die die Buchbranche verändern werden.

Lesen wird gerne als die zentrale Kulturtechnik bezeichnet. Sie sehen das anders. Warum?

Die gesamten Bildungsanstrengungen der Moderne sind darauf gerichtet, dass alle Menschen lesen lernen. Dabei ist das Nicht-Lesen-Können eine Tugend. Die Fürsten haben es sich bis ins 17. Jahrhundert hinein geleistet, nicht schreiben und lesen zu können. Und warum? Wenn man dabei erwischt wird, dass man etwas gelesen hat, dann kann man hinterher gefragt werden, wie man sich dazu verhält. Wenn man aber erst gar nichts gelesen hat, kann man auch nicht festgelegt werden. Aber dass dies für Fürsten galt, heißt natürlich nicht, dass es auch für alle anderen galt. Lesen ist zur zentralen Kulturtechnik geworden, und dies schon deswegen, weil man sonst wehrlos Leuten ausgeliefert war, die ihrerseits gelesen hatten und nun ihre oft kritische Meinung in allen möglichen Situationen zur Geltung bringen mussten. Das ist nicht wirklich vorbei, aber das Lesen von Büchern tritt mittlerweile in den Hintergrund, weil es wichtiger geworden ist, mit dem Computer und seinen Netzwerken umgehen zu können.

Demnach wäre es nicht schlimm, dass viele Kinder und Jugendlichen Lesedefizite haben - so sie enn nur mit den elektronischen Medien umgehen können?

Sicherlich ist es entscheidend, mit den Multimediaangeboten des Computers umgehen zu können, so bedauerlich es auch ist, dass die meisten Kinder und Jugendlichen keinerlei Bedürfnis zu haben scheinen, etwas von den Rechenmaschinen zu verstehen, die sich hinter den Bildschirmen verbergen. Im Übrigen ist es wie früher mit den allzu leicht konsumierbaren Abenteuergeschichten und Comics: Nichts ist schwieriger, als Jugendliche dazu einzuladen, den distanzierten Blick eines Philologen einzunehmen, sei es auf einen Text, ein Bild, einen Film oder ein Musikstück. Aber wenn man heute etwas lernen muss, dann sicherlich nicht Textkritik, sondern Multimediakritik. Und wie immer ist es dazu entscheidend, Vergleiche vornehmen zu können und eigene Entscheidungen für oder gegen dieses oder jenes Medium treffen zu können.

Leser haben bei Ihnen nicht den besten Ruf. Sie seien biestig, beharrlich und pedantisch.

Als Pedant galt man im 18. Jahrhundert, wenn man bei einem geselligen Zusammentreffen nicht das Thema wechseln konnte. Man verletzte die wichtigste Regel der Konversation, nämlich, dass den anderen sich in der eigenen Gesellschaft wohlfühlen zu lassen. Der Leser, der die Gesellschaft der Aufklärung beim Wort nahm und annahm, nichts sei wichtiger, als ein Thema mit aller nötigen Sachkenntnis und unterstellten Vernunft in der erforderlichen Ausführlichkeit zu entfalten, machte sich schnell als Störenfried unmöglich und vor allem unzugänglich. So schützte sich die Interaktion vor ihrer eigenen Überforderung durch jene Aufklärer, die meinten, alle wichtigen gesellschaftlichen Fragen seien durch Interaktion, also durch ein Gespräch zu klären.

Finden Sie Bücher langweilig?

Nein, ich finde nicht Bücher langweilig, sondern ich merke, dass sie meist nicht in der Lage sind, dem Konkurrenzdruck mit anderen Medien standzuhalten. Bücher müssen nervöser werden. Sie müssen selber zwischen den Medien wechseln. Sie dürfen nicht mehr auf jenen langen Atem vertrauen, den man allenfalls noch in den Winterferien, fern aller Internetanschlüsse, aufbringt.

Wie würde solch ein nervöses Buch aussehen?

Ich weiß nicht genau, wie dieses nervöse Buch aussieht, möglicherweise ist es den Fragmenten der Romantiker verwandt. Aber wichtig ist, dass man es an verschiedenen Stellen aufschlagen kann und nicht gezwungen ist, es linear von Anfang bis Ende zu lesen, nur um eine Geschichte zu verstehen, die in jedem ihrer Züge konstruiert wirkt und schon deshalb nicht mehr überzeugt. Ich habe von Philologen gelernt, dass man heutzutage nur die ersten 10 Seiten eines Buches lesen muss, um bereits den Rest erraten zu können. Für das nervöse Buch würde das nicht gelten. Es entscheidet sich gegen die Redundanz und sucht die Varietät.

Entspricht der Mangel an nervösen Büchern wirklich Ihrer persönlichen Leseerfahrung?

Ich war lange Zeit nicht mehr in der Lage, Romane zu lesen, das ändert sich allerdings im Moment wieder, weil man Bücher von Denis Johnson oder Roberto Bolaño lesen kann, ohne sofort zu wissen, worauf sie hinauswollen.

Sind also die Autoren nicht fähig, Bücher so zu schreiben, dass die Leser dabei bleiben?

Die richtigen Textproduzenten haben wir längst, wenn man etwa an die Teilnehmer von Poetry Slams oder auch an die Pecha Kucha Nächte denkt, die Powerpoint-Wettbewerbe, auf denen es darum geht, Themen beliebiger Komplexität auf 20 Folien zu präsentieren, von denen jede einzelne nur 20 Sekunden lang gezeigt werden darf, macht 6 Minuten und 40 Sekunden für jeden Vortrag. Hier bereiten sich Kenntnisse im Umgang mit Multimediaformaten vor, von denen wir bislang kaum eine Vorstellung haben. Wir wissen ja kaum, was lineare Texte mit uns gemacht haben, ganz zu schweigen die bewegten Bilder von Film und Fernsehen.

Sie haben eine ungewöhnliche Lesevorliebe: Sie lesen gerne Mathematikbücher. Wieso gerade die?

Das ist etwas übertrieben, weil ich von der Sache leider viel zu wenig verstehe. Aber im Gegensatz zu Sätzen haben Gleichungen die faszinierende Eigenschaft, einen unter Umständen komplexen Strukturzusammenhang für einen Blick darzustellen, der sich seinen Weg ähnlich wie bei einem modernen Gedicht selber suchen muss. Es gibt keine Subjekt/Objekt/Prädikat-Logik, die den Leser so erbarmungslos an die Hand nimmt und nur durch Parataxen aller Art wieder in eine gewisse Schwebe, also Unentschiedenheit, also Faszination gebracht werden kann. Hinzu kommt, dass Mathematiker einen Weg gefunden zu haben scheinen, aus den ellenlangen Texten auszusteigen, die die europäische Wissenschaftstradition von uns verlangt. Sie bringen ihr Problem mit einer Gleichung oder Ungleichung auf den Punkt.

Was kann man tun, um Bücher zu kreieren, die möglichst viele Leser ansprechen?

Mir fällt auf, dass in der gegenwärtigen Verlagslandschaft jedes Element der Wertschöpfungskette jedes andere zu kennen glaubt, ohne diese Kenntnis je zu überprüfen beziehungsweise weiterzuentwickeln. Ich wage nicht, mir vorzustellen, auf welche Ideen zu welchen Büchern man käme, wenn man einmal Autoren, Lektoren, Verleger, Buchhändler, Leser und Kritiker in den heute so beliebten Open-Space-Formaten zusammenbringen und gemeinsam an etwas arbeiten lassen würde. Ich denke, das Experiment könnte sich lohnen, und zwar im Bereich der Romane ebenso wie bei Sachbüchern und, ganz besonders, Schulbücher. Wir pflegen stattdessen Phantasien übereinander, die sich auf eine eher langweilige Art und Weise wechselseitig bestätigen. Wir glauben, wir würden alle von denselben Büchern reden, doch ich glaube, dass das ein Irrtum ist.

Findet nicht dieser Austausch schon längst statt?

Heute sind es ja ganz neue Akteure, die auf den Markt drängen und andere Zugänge untereinander pflegen. Da werden die Inhalte, die contents, zum Köder, um Lesegeräte zu verkaufen. Aber es könnte sich um Akteure handeln, die schneller als der klassische Schulbuchverlag in der Lage sind, auf die Bastelbedürfnisse von Lehrern und Schülern zu reagieren, die sich ihre Lehr- und Lernmaterialen gerne unabhängig vom Zwang der Verlage, ein Buch gebunden auf den Markt zu bringen, zusammenstellen würden. Das elektronische Buch wird vermutlich eher einem Zettelkasten ähneln, durch den man mithilfe von tags navigiert. In der Computerbranche kam man irgendwann dahinter, dass man zu wenig über den Umgang der Benutzer in verschiedenen Situation, bei der Arbeit wie bei der Freizeit, mit dem Computer wusste und entwarf eine ganze Ethnologie des Computergebrauchs, mit der das Palo Alto Xerox Research Center seinerzeit berühmt wurde. So etwas steht uns für das vermeintlich so alte Medium Buch vermutlich erst noch bevor. Wir kennen den rezitierenden Mönch des Mittelalters und den einsamen Leser der Moderne: Ist damit das Repertoire des Umgangs mit Büchern erschöpft?

Ist das Buch also in einer Format-Krise?

Wir müssen es lernen, hier wie auch in anderen Branchen die Formatfrage wieder zu stellen. Was schließt das Buch in der gegenwärtigen Form ein, was schließt es aus. Seine Variationsbreite ist ja bereits enorm, wie jeder Blick in einen gut sortierten Buchladen bestätigt. Und dennoch haben wir es immer wieder mit denselben Texten und Paratexten zu tun: Autor, Titel, Verlag, Erscheinungsort, Inhaltsverzeichnis, Kapitel, Absätze, Sätze, ab und an von einem Bild unterbrochen. Warum hört man nichts? Warum bewegt sich nichts? Warum kann man das Buch nicht sofort umschreiben und ausprobieren, ob und wie das geht? Warum kommt man als Leser nur so selten vor? Es gibt ja Autoren wie Lawrence Sterne, Jean Paul, Georges Perec oder Italo Calvino, die mit dem gewohnten Format experimentiert haben. Aber im Moment erlebt man wie in vielen anderen Bereichen eher einen konservativen Rückzug auf die vermeintlich so bewährte Form. Das wird sich meines Erachtens nicht lange halten lassen.

Hat das Buch Ihrer Meinung nach eine Zukunft?

Das Buch hat eine mindestens so große Zukunft vor sich wie Vergangenheit hinter sich, auch wenn es nicht mehr die zentrale Kulturtechnik der modernen, das heißt der Buchdruckgesellschaft ist. Aber ich nehme an, dass die Verlage bald ganz anders aussehen werden als heute.

Zur Person

Dirk Baecker, geboren 1955, studierte Soziologie und Nationalökonomie. Forschungsaufenthalte führten ihn etwa an die Stanford University und die London School of Economics. Baecker lehrte in Witten / Herdecke und ist Mitbegründer des Management Zentrums in Witten. Seit 2007 hat er den Lehrstuhl für Kulturtheorie und -analyse an der Zeppelin University in Friedrichshafen inne.