Sie stehen seit 2006 unter Personenschutz, leben versteckt. Haben Sie gezögert, persönlich nach München zu kommen, um den Geschwister-Scholl-Preis in Empfang zu nehmen?
Saviano: Soweit es mich selbst betrifft, habe ich keinen Moment gezögert. Aber bei der Organisation der Preisverleihung kamen mir schon Bedenken. Ich wäre am liebsten ohne Personenschutz und andere Sicherheitsvorkehrungen ausgekommen, doch die deutsche Regierung hat darauf bestanden. Das machte die Sache für die Veranstalter natürlich schwieriger. Und das Publikum ist solche Maßnahmen nicht gewohnt. Für mich persönlich wird es dadurch schwer, so etwas wie Privatheit in mein Leben zu integrieren, aber ich versuche es immer wieder.
Was verbindet Sie mit den Geschwistern Scholl? Ist die »Weiße Rose« Italienern ein Begriff?
Saviano: Mir ist die Widerstandsgruppe der »Weißen Rose« sehr wohl bekannt. In Italien kennt man sie vor allem in christlichen Kreisen. Ich habe den Preis sehr bewusst angenommen und mich über ihn besonders gefreut. Die Geschwister Scholl gehören zu den wichtigsten moralischen Bezugspunkten für mein eigenes Leben und Arbeiten. Nicht nur, weil die »Weiße Rose« aktiv gegen Hitler gekämpft hat, sondern weil alle Mitglieder an die Kraft und Macht des geschriebenen Wortes geglaubt haben.
Es wäre historisch unseriös, die Verbrechen des Faschismus mit denen der Camorra vergleichen zu wollen. Aber wagen wir trotzdem einen Vergleich: Sehen Sie Gemeinsamkeiten?
Saviano: Als ich Kind war, wurde ein Pfarrer von der Camorra umgebracht, weil er ein Papier über sie herausgegeben hatte. Und dieser Pfarrer hat eines klar und deutlich festghehalten: Die Camorra – und im weiteren Sinn die Mafia – sorgt in Italien für eine bewaffnete Diktatur. Wer offen gegen sie spricht, wird bestraft. Das war im Faschismus nicht anders.
Sie bekommen den Preis für Ihr Buch »Das Gegenteil von Tod«. Es erzählt vom Schicksal vieler junger Süditaliener, die keinen Job finden und vor der Wahl stehen, sich bei der Camorra oder bei der Armee zu verdingen. Eine Anklage?
Saviano: Ich erzähle hier eine Geschichte, wie sie trauriger nicht sein könnte. 90 Prozent aller Soldaten kommen aus dem Süden, so wie die meisten Soldaten, die bei den Einsätzen im Irak und in Afghanistan gestorben sind. Damit zahlt der arme Süden den Blutzoll für die gesamte Nation. Die jungen Männer wollen um jeden Preis der Armut entkommen. Und finden bei diesem Versuch oft den Tod – oder gleiten für immer in die Kriminalität ab.
Wie reagieren die Süditaliener darauf, dass Sie den Finger in diese Wunde legen?
Saviano: Statt ihre Lebensumstände zu hassen und dagegen aufzubegehren, verachten die Leute mich, der ich doch ihre Stimme bin. Aber mit diesem Widerspruch habe ich gelernt zu leben.
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