Rund 50 Jahre deutscher Literaturgeschichte, an der sich auch die Rolle Intellektueller in der Gesellschaft ablesen lässt, sind dann der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. 650 Veranstaltungen des LCB wurden digitalisiert, etwa 120 werden ab heute Abend abrufbar sein, die ältesten ab 1963; laufend wird ergänzt. In Zukunft kann also auch ein Germanist in China seinen deutschen Lieblingsautor posthum akustisch "live" erleben und Tondokumente downloaden.
Die Idee zu diesem Projekt fasste vor drei Jahren LCB-Geschäftsleiter Dr. Ulrich Janetzki, der damit den Wünschen vieler Hörer und Leser nachkommt, die Diskussionen wieder zugänglich zu machen. Die "Studio LCB"-Veranstaltungen etwa, die seit 1990 in Zusammenarbeit mit dem Deutschlandfunk (DLF) ausgestrahlt wurden und zu den meistgehörten Literatursendungen in Deutschland gehören, waren aufgrund der bestehenden Rundfunk-Gesetze bislang nur einmal im Radio hörbar. Nun sind diese bedeutenden literarischen Dokumente dauerhaft abrufbar. Seit 1963 sind so gut wie sämtliche Schriftsteller von Rang und Namen – von Paul Celan und Pier Paolo Pasolini über Salman Rushdie bis Czeslaw Milosz – in der alten Villa am Wannsee, auf Initiative Walter Höllerers Sitz des LCB, zu Gast gewesen. Die Schriftsteller der Gruppe 47 tagten hier und "stritten sie sich, dass die Fetzen flogen" (Höllerer), "streitbare Gespräche" fanden hier laut Günter Grass statt, "Rankünen, Rivalitäten" notierte Peter Weiß. "So etwas wie die LCB-Lesungen, dass hart und auf hohem Niveau über Literatur diskutiert wird, gibt es nicht im Ausland", kommentiert Janetzki.
Die Relevanz des Projektes erkannten zwei Förderer: Die S. Fischer Stiftung leistete mit 10.000 Euro eine kleine Anschub-Finanzierung für die Recherche, ob und wie das Projekt lohnen könnte; die Kulturstiftung des Bundes steuerte das Gros von 185.000 Euro bei; rund 36.000 Euro brachte das LCB selber auf. Antje Contius, Sprecherin der S. Fischer Stiftung, würdigt Janetzki, der als Schüler Höllerers die letzte Brücke zwischen den 60/70er-Jahren und dem heutigen Literaturbetrieb sei, und sein Engagement: "Das Ganze stellt eine irre Sammelleistung der Rechte dar – im besten Sinne im öffentlichen Interesse." Zwei fest angestellte Kräfte benötigten zwei Jahre, um die Arbeit zu stemmen. Bei allen einzelnen Autoren, Verlagen, Gesprächspartnern mussten die Rechte eingeholt werden; die Zustimmung lag bei fast hundert Prozent. Die vorhandenen Tonträger wurden erfasst, systematisiert und von einem Tontechniker bearbeitet und digitalisiert; parallel dazu wurde die Website "Lesungen.net" mit Filmen und Fotos, Informationen zu allen beteiligten Autoren, Gesprächspartnern und Veranstaltungen, besprochenen Texten und Inhalten der Diskussion aufgebaut.
Mit dieser digitalen Archiv- und Präsentationsfläche ist nicht nur der Gefahr entgegen getreten, dass die Tondokumente, als Tonbänder in Keller-Archiven lagernd, zerfallen. Langfristig ist die Kooperation mit anderen Literaturhäusern geplant, die ebenfalls die Möglichkeit erhalten, ihre Veranstaltungen auf "Lesungen.net" zu präsentieren; das Literaturhaus Basel stellt rund sechzig Lesungen ins Netz, das Literaturhaus Wien hat Interesse signalisiert. Eine solche Plattform könnte DIE Referenzadresse für literarische (Hör-)Dokumentationen werden. Janetzki: "Mit www.lesungen.net schaffen wir eine neue Kunstform."
Doch berührt die unentgeltliche Verfügbarmachung solchen Materials nicht ureigenste Interessen von Verlegern und Autoren, die ja schließlich von der Verwertung der Rechte leben? Janetzki verneint: "Die Suhrkamp-Rechte Chefin Petra Hardt etwa hat erkannt, dass wir damit den Verlagen zuarbeiten: Wir halten die Bücher der backlist aktuell, indem wir die Autoren aus dem Gedächtnis ins Heute holen." Antje Contius bekräftigt das: "Diese Diskussionen und Beiträge würden Sie nie an den Mann bringen können; es ist illusorisch, damit Geld zu verdienen."
Offiziell vorgestellt wird die Website heute Abend im LCB: Nach einer Begrüßung durch Hortensia Völckers, Vorstand und Künstlerische Direktorin der Kulturstiftung des Bundes, wird Ulrich Janetzki das neue Projekt vorstellen. Hajo Steinert, Chefredakteur für den Bereich Kulturelles Wort beim Deutschlandfunk, der Hamburger Rechtsanwalt Joachim Kersten und die Schriftstellerin und Journalistin Eva Menasse diskutieren anschließend über die Bedeutung und die Veränderungen, die digitale Projekte wie www.lesungen.net für den Literaturbetrieb mit sich bringen. Die Moderation übernimmt der Publizist Jörg Magenau.
Zu hoffen ist, dass diese feierliche Eröffnung der Website online archiviert wird; der Rundfunk überträgt sie nämlich nicht.
Literarisches Colloquium Berlin Tonarchiv
27. September 2011
Heute Abend geht ein einzigartiges Projekt online: Unter www.lesungen.net wird das Tonarchiv des Literarischen Colloquiums Berlin (LCB) im Internet abrufbar sein. Unterstützt wurde das Projekt durch die S. Fischer Stiftung und die Kulturstiftung des Bundes. Eine Kooperation mit anderen Literaturhäusern ist langfristig gewünscht.