Interview mit Krimi-Experte Tobias Gohlis

"Das Verbrechen schlummert in uns allen"

22. März 2012
Redaktion Börsenblatt
Wie funktioniert die Arbeit in der KrimiZeit-Jury? Im Interview verrät Literaturkritiker und Autor Tobias Gohlis was gute Krimis eigentlich ausmacht und verrät etwas über seinen persönlichen Krimi-Geschmack.

Wie landet ein Buch auf der KrimiZeit-Bestenliste?
Das Verfahren der KrimiZeit-Jury ist ein einfaches: Alle 16 Juroren, allesamt Journalisten und Redakteure bei verschiedenen Magazinen, Radiosendern und Zeitungen, lesen andauernd Krimis und schauen, was die besten und interessantesten Titel auf dem Markt sind. Jeden Monat erstellen sie eine Liste mit vier Titeln, denen Sie Punkte vergeben: 7, 5, 3 und 1 Punkt müssen verteilt werden. Aus diesen Bewertungen entsteht schließlich die Gesamtliste. Um einen Gleichstand zu vermeiden, multiplizieren wir außerdem die Anzahl der abgegebenen Stimmen für ein Buch mit der Summe der Punkte, die es erhalten hat. Ein Titel, der mehrfach mittlere Wertungen erhalten hat, kann also auch Bücher schlagen, die von einzelnen Juroren mit einer hohen Punktzahl versehen werden. Die Faktoren Einzelwertung und Gruppenwertung werden also gleichermaßen berücksichtigt. Da die Juroren ganz unterschiedliche Wohnorte haben, funktioniert  die Abstimmung und der Austausch hervorragend per E-Mail.

Sie müssen sicher eine Menge lesen ...

Das Lesepensum ist für uns als Jury ist übrigens ziemlich hoch: Im Schnitt gibt es fünf neue Titel auf der Liste. Bekanntermaßen neigen Krimis dazu, 400 Seiten leicht zu überschreiten. Titel unter 250 Seiten sind leider sehr selten. Als Sprecher der Jury habe ich alle Titel auf der Liste gelesen, auch die, für die ich nicht selbst gestimmt habe. Zehn bis 12 Bücher im Monat kommen so leicht zusammen. Von Vorteil ist es übrigens, dass auf der KrimiZeit-Besenliste stets "Wiederholungstäter" auftauchen: Das ist als Orientierung natürlich sinnvoll, weil es deutlich macht, dass ein Buch bei der Jury nachhaltige Beliebtheit genießt. Nicht alle Juroren haben den gleichen Buchgeschmack oder die gleichen Interessen: Die Jurymitglieder machen sich für unterschiedliche Titel stark und inspirieren dadurch wiederum ihre Kollegen: Im März steht etwa Mike Nicols "Payback" zum dritten Mal auf dem ersten Platz der Liste - und jedesmal waren es andere Juroren, die dem Buch ihre Stimme gaben. Außerdem: So viele gute Krimis gibt es in der Krimiflut nicht, die es verdienen, ausgezeichnet zu werden.

Und wie sieht ihr persönlicher Krimi-Geschmack aus?
Viele meiner persönlichen Favoriten werden Sie auf der März-Liste wiederfinden: Mike Nicols "Paback" gehört dazu,.. An neuen Bücher haben mir folgende Titel besonders gefallen: "Das Handwerk des Teufels" (Donald Ray Pollock), interessant finde ich auch Arne Dahls "Gier", Oliver Harris "London Killing" sowie Fred Vargas "Die Nacht des Zorns". Außerdem gibt es da natürlich noch einige Titel, die bisher noch nicht auf unserer Liste standen: Oliver Bottini: "Der kalte Traum", "Zeit der Wut" von Giancarlo de Cataldo und Mimmo Rafele, erschienen im Folio Verlag. Sehr lesenwert ist Robert Bracks: "Unter dem Schatten des Todes", ein Buch, das sich mit dem Reichstagsbrand auseinandersetzt. Und als Sachbuch kann ich David Simons und Ed Burns’ "The Corner" wirklich nur empfehlen.

Was macht einen Krimi denn zu einem guten Krimi?
Über Geschmack lässt sich bekanntermaßen (nicht) streiten: Einheitliche, normative Kriterien für einen guten Krimi gibt es natürlich keine. Sie wären auch eher ein Schaden. Die Krimis die mir gefallen, gehören nicht der Schemaliteratur an, sondern verhalten sich dem Schema gegenüber intelligent oder ignorant, je nachdem wie man es nehmen will. Ein Krimi muss natürlich gut geschrieben und erzählt sein - sowie jede andere Art von Literatur auch. Beim Krimi sollte der Autor das Thema Verbrechen aber mit besonderem Ernst behandeln. Es muss dabei nicht immer tieftraurig zugehen, aber er muss sich von unsäglichen Albernheiten abgrenzen: Regionalkrimiblödsinn und Serienkillerquatsch, typische Massenware. Das Problem von Schemaliteratur ist, dass sie nicht die Augen für die Groteskheit wirklicher Verbrechen zu öffnen vermag. Sie sieht nicht, dass das Verbrechen als Möglichkeit in jedem von uns steckt und gewissermaßen das täglich Brot unserer Gesellschaften ist. Verbrechen wird dort als etwas gänzlich Fremdes, als isolierter Unterhaltungsgegenstand behandelt, für den die Polizei zuständig ist. Es gibt nichts Kritisches, keine sozialkritische oder selbstkritische Ebene und auch keinerlei anthropologische oder ethische Reflexion. Das Schema erledigt das von selbst.

Fragen Kai Mühleck

Tobias Gohlis (Jahrgang 1950) ist Initiator und Sprecher der KrimiZeit-Bestenliste. Der Autor und freie Journalist ist nicht nur ein Krimiliebhaber, weitere Hauptbeschäftigungsgebiete sind Reisereportagen und Reiseliteratur. Eine seiner große Lieben ist indes seine Geburtsstadt Leipzig geblieben. Die KrimiZeit-Bestenliste ist eine Kooperation von NordwestRadio und der "Zeit" und erscheint stets am ersten Donnerstag im Monat.