Gibt es etwas Klareres, Reineres, ja Unschuldigeres als ein einfaches Glas Wasser? Vor allem, wenn es auf einem Tisch steht, an dem in wenigen Minuten eine Dichterin oder auch nur ein Schriftsteller Platz nimmt zur angesagten Lesung? Eine Weile ist es das Einzige, woran sich der Blick des erwartungsvollen Publikums festhalten kann, denn gerade erst hat es der Veranstalter / die Buchhändlerin aus einer gläsernen Karaffe – aus familiären Beständen für diesen Anlass zur Verfügung gestellt – eingeschenkt. Und hat sich nicht ein Blinken der Stehlampe in dem Glas gefangen, das nichts anderes sein kann als der Funke, der nur darauf wartet, im richtigen Moment überzuspringen?
Ja, die Buchhändlerin als Mundschenk, so hat schon so manche unvergessliche Lesung ihren Anfang genommen, und oft wurde es ihr von dem Schriftsteller / der Dichterin sofort gedankt, indem er oder sie, kaum dass sie Platz genommen haben und noch bevor der erste Beifall verklungen, geschweige denn die Buchhändlerin / der Veranstalter die Worte der Begrüßung gefunden haben, sich einen herzhaften Schluck vergönnt haben, so als seien sie nach langem, erschöpfendem Weg endlich bei den Ihren angekommen, die Gott sei Dank für alles gesorgt haben, was einem guttut.
Freilich kann es auch vorkommen, dass dieses Glas die gesamte Lesung ungetrunken übersteht, Zeuge, wenn man so will, abgewiesener Gastfreundschaft, vielleicht aber auch nur eines Feinschmeckertums, das sagen will: Dieses Wasser nicht, nicht zu meinen Texten. Man hätte es wissen müssen.
In jedem Fall ist das aus dem Krug gespendete Wasser immer eine andere, herzlichere Labsal als das aus der gekauften Flasche. Zumal diese sofort das Problem aufwirft: mit oder ohne. Wobei mit mit Sicherheit Irritationen hervorrufen kann, die bei ohne ohne Frage ausbleiben.
Wie auch immer, da steht es nun, Teil eines Stilllebens, das von Büchern mit eingelegten Merkzetteln ergänzt wird. Nach dem ersten Schluck sieht es schon fast halbleer aus, und während die Lesung ihren Lauf nimmt, wird die Buchhändlerin immer wieder versucht sein, eine Gelegenheit zum Nachschenken zu finden, aber das erledigt die Dichterin, fast ohne hinzuschauen, schon selber, nur um im gleichen Schwung, an einer Stelle, wo man es nicht vermutet hätte, einen weiteren kräftigen Schluck zu nehmen, gern auch mitten im Satz, um dann mit umso frischerer, feuchterer Stimme fortfahren zu können.
Es geht eben etwas Belebendes von diesem Glas Wasser aus, dieser bildgewordenen Unschuld, die doch in einem so lebensnahen Kontrast steht zu dem Viertel Weiß oder Rot, das der Schriftsteller / die Dichterin noch vor Betreten des Lesungsortes zur Stimmstärkung und Kontaktbereitschaft zu sich genommen hat, wenn es denn nicht ein Minibarfläschchen gewesen ist, das da zum Ausschank oder Einschank kam respektive verlötet wurde.
Im Hinterher, nach Lesung und sogenanntem Gespräch, beim Griechen am Ort oder in einem kulturgewogenen Wirtshaus, muss sich das Wasser, jetzt unbedingt als Leitungswasser zu erbitten, mit einer Nebenrolle bescheiden, jetzt ist das Bier / der Wein / der Spezialschnaps der Region das Angesagte. Das Wasser des Beginns jedoch bleibt, was es ist: Inbild der reinen Unschuld aller Kunst und aller, die etwas für sie tun.