Geschwister-Scholl-Preis

"Die Zeit war reif": Ein Interview mit Jürgen Dehmers

6. Juli 2015
von Börsenblatt
Als Kind wurde Jürgen Dehmers an der Odenwaldschule sexuell missbraucht. Sein engagiertes Buch "Wie laut soll ich denn noch schreien?“ zeichnet sowohl die Verbrechen als auch deren schleppende Aufklärung beklemmend präzise nach. Am 26. November bekommt er dafür den Geschwister Scholl-Preis – für ihn auch eine Genugtuung.

Sie haben es als Betroffener geschafft, das Thema "Sexueller Missbrauch an der Odenwaldschule" im kollektiven Bewusstsein zu verankern und damit die Aufklärung der Verbrechen zu initiieren und voranzutreiben. Warum wurden die Verbrechen erst 2010 zum Skandal, obwohl doch bereits 1999 die "Frankfurter Rundschau" alle wesentlichen Fakten veröffentlichte? 

Dehmers: Die Zeit war reif – das ist die einzige Antwort, die ich habe. Jörg Schindlers Artikel wurde 1999 nicht als triftige Information aufgenommen, weder von den Leitmedien noch von der Justiz. Es hätte ein Aufschrei durch die Republik gehen müssen, aber die geistige Elite hat versagt, sie hat geschwiegen. Die Odenwaldschule war der Wallfahrtsort des besseren Deutschlands, stand für eine alternative Pädagogik. Und 2010, als dann die große Welle kam, haben alle nichts gewusst: Der damalige Bundespräsident, der die Schule besucht und ihr den Ritterschlag gegeben hat; die hessischen Kultus- und Sozialministerien ... Es ist spannend, darüber nachzudenken, was für ein Prozess stattgefunden hat zwischen 1999 und 2010 – auf jeden Fall ein multifaktorieller. Die Zeit war reif, auch für die Aufklärung der Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche. 

In Ihrem Buch schreiben Sie, die mediale Exekution von Tätern sei vielleicht das Befreiungsritual der Gegenwart. Empfinden Sie es als Genugtuung, nun für Ihr Buch den Geschwister-Scholl-Preis zu bekommen?  

Dehmers: Ja – auch wenn einige der Haupttäter nicht mehr leben. Denn ich mache mit diesem Buch das, was mir in diesem Staat als Umgang mit den Tätern erlaubt ist. Ich spreche, ich schreibe – ich orientiere mich im Rahmen der Möglichkeiten, die mir nutzen und die mir nicht erneut schaden. Es ist wichtig, nicht autodestruktiv zu handeln. Diese Möglichkeit haben nicht alle. Durch die Verjährungsfristen ist es für viele Betroffene unmöglich, klärende Prozesse zu führen. Die dürfen die Namen der Täter nicht laut aussprechen, weil sie sonst verklagt werden. Der Staat betreibt hier aktiven Täterschutz.

Warum sprechen Sie eher von „sexualisierter Gewalt“ als von „sexuellem Missbrauch“?  

Dehmers: Es ist ein Irrtum zu glauben, dass das irgend etwas mit Sexualität zu tun hätte – mit der der Kinder sowieso nicht. Es geht um Machtausübung, um Gewalttätigkeiten, um Triebabfuhr. Die Täter verletzen die körperliche und psychische Unversehrtheit der Kinder. Das sind Straftaten, deshalb spreche ich auch von Pädokriminalität statt von Pädophilie. Es sieht für manche aus der Ferne vielleicht so ähnlich aus wie Sexualität, es handelt sich aber um Gewalt. 

Welche positiven Folgen kann dieser Perspektivwechsel haben? 

Dehmers: In dem Moment, in dem wir anerkennen, dass es sich um reine Gewalttaten handelt, ist es leichter, die Täter einzukreisen, weil wir dann nicht mehr in den Intimbereich von jemandem eingreifen. Wenn ich etwas als sexuelle Liebesbeziehung sehe, dann halte ich mich vielleicht lieber heraus. Wenn ich aber sage, da übt der eine über den anderen gewaltsam Macht aus, dann kann ich verlangen, dass er aufhört, und ihm mit der Polizei drohen. 

Was folgt daraus für die Kinder? Was würden Sie, auch als Vater, Eltern raten? 

Dehmers: Es ist wichtig, mit Kindern in einer Atmosphäre zusammenzuleben, in der alles besprechbar wird – egal was passiert. Grundsätzlich sollten wir solidarisch sein mit dem Kind – das heißt Unterstützung anbieten, die Sache zu klären, und zwar auf eine undramatische Art. Denn ein Teil des Problems entsteht durch unseren Umgang damit. Die Kinder werden ja durch sexualisierte Gewalt nicht anders beschämt oder beschmutzt als Kinder, die verprügelt oder abschätzig behandelt werden von Erwachsenen, wenngleich die Traumatisierungen verheerender sind. Sie sind Gewaltopfer. Die Schäden der Traumatisierung sind massiv und beeinflussen das gesamte Leben der betroffenen Person. Viele finden nie einen ruhigen Schlaf, einen Platz in der Gesellschaft oder eine liebevolle Partnerschaft. Das, was ich erlebt habe, lässt sich nicht „aufarbeiten“, das ist unrealistisch. Die Vorstellung des physischen Todes ist auf meiner Skala nicht das Schlimmste, was mir passieren kann. 

Halten Sie die Odenwaldschule für reformierbar? 

Dehmers: Nein, denn ich halte sie im Grundsatz für verrottet und falsch. Man kann die Odenwaldschule meiner Meinung nach nur noch stilllegen. Seit 13 Jahren verweigert sich diese Institution der Aufklärung und macht immer nur so viel, dass man denkt, jetzt fangen sie an, wirklich etwas zu tun. Ich glaube nicht mehr daran. Was ich beobachte, sind Pseudoaktivitäten, die der Schule nützen und nicht den Betroffenen. 

Wie Sie auch schreiben, ist sexualisierte Gewalt kein exklusives Problem von Internaten und kirchlichen Einrichtungen, sondern findet auch in der Familie statt ... 

Dehmers: Wir könnten allmählich die Diskussion führen, ab wann jemand eigentlich Täter ist: Es ist zwar richtig, 90 Prozent der Täter sind Männer, aber das bedeutet umgekehrt, dass die Frauen vertuschen, bagatellisieren, wegschauen. Männer misshandeln die Kinder in der Familie und die Frauen wollen es nicht mitbekommen haben. Aber es nutzt den Kindern nicht, wenn die Erwachsenen sich gegenseitig die Verantwortung zuschieben. Bei diesem Thema müssen alle zur Veränderung bereit sein. 

Zur Person

  • Jürgen Dehmers ist das Alter Ego eines Autors, der als Schüler in den 80er Jahren die Odenwaldschule besuchte und dort eines der Opfer des Schulleiters Gerold Becker wurde. Seit mehr als zehn Jahren konfrontiert er Täter, Mittäter, Schweiger und Vertuscher mit ihren Verbrechen. Im Jahr 2010 gelang ihm die weit reichende Vernetzung der Betroffenen, und er fand endlich bei einer breiten Öffentlichkeit Gehör.
  • Am 26. November erhält Dehmers für sein Buch »Wie laut soll ich denn noch schreien?« (Rowohlt) den Geschwister-Scholl-Preis, der im Rahmen des Literaturfests München zum 33. Mal verliehen wird. Stifter sind der bayerische Landesverband des Börsenvereins und die Landeshauptstadt München. Die aktuelle »Spiegel«-Ausgabe widmet dem Scholl-Preisträger 2012 ein Interview, in dem Dehmers seine Identität offen legt.