Leipziger Buchmesse - Schwerpunkt tranzyt

"Über Grenzen hinweg"

23. Juli 2015
Redaktion Börsenblatt
tranzyt, Kilometer 2013: Der Leipziger Messe-Programmschwerpunkt mit Literatur aus Polen, der Ukraine und Belarus geht in die zweite Runde. Ein Interview mit Kurator Martin Pollack über westliche Wissensdefizite und die Kärrnerarbeit literarischen Netzwerkens.

Ist die zweite Etappe solch eines Projekts die schwierigere?

Martin Pollack: Klar, das liegt in der Natur der Sache. Und die Welt erwartet natürlich Ergebnisse, wozu macht man denn sonst so ein Programm? (lacht) Aber wir haben es hier eben nicht mit Prozessen zu tun, die sich von einem Jahr aufs andere vollziehen. Man braucht Geduld.

Es ist Arbeit, die sich weitgehend im Verborgenen vollzieht?

Richtig. Was mich sehr freut: Die Ukrainer steigen mit einem eigenen Programm ein. Und wir präsentieren unter anderem zwei Bücher von belarussischen Autoren. Neue Gedichte von Valzhyna Mort und einen fundamentalen Essay des Philosophen und Schriftstellers Valentin Akudowitsch, ein Band, der tatsächlich ein Produkt des ersten Anlaufs in Leipzig ist. Ohne Persönlichkeiten wie Katharina Raabe, die diese Übersetzung angeschoben hat, würden wir arm ausschauen. Es braucht diese Leute, die ihre Sache mit Wissen und Herz vertreten, so wie Katharina das bei Suhrkamp macht...

Oder wie Albrecht Lempp, der im letzten Herbst, völlig unerwartet, gestorben ist. Ihm hat tranzyt wahrscheinlich viel zu verdanken?

Seine Anregungen, aber auch seine Kritik waren für uns unglaublich wertvoll. Albrecht war ein großartiger Vermittler. Er fehlt den Polen sicher noch mehr als uns − "unser Deutscher" haben sie ihn genannt...

Sind Sie zufrieden mit dem bisher Erreichten?

Vielleicht wäre es vermessen zu sagen: Ohne uns hätte es dieses und jenes nicht gegeben. Aber natürlich ist genau das unsere Aufgabe: Anstöße zu geben, Neugier zu wecken − und diese Länder in den Fokus zu bringen. Dass nicht der große Medien-Tsunami losbricht, sich hier Verlage um Autoren aus der Ukraine oder Belarus balgen − klar.

Dennoch funktioniert Ihr Graswurzel-Ansatz?

Mir ist es besonders bei der Presse aufgefallen: Wir werden schon jetzt nach interessanten Namen gefragt, nach Kontakten, Interviewmöglichkeiten. Man ist gespannt und will sich vorbereiten. Wir können Türen öffnen – eintreten und Fragen stellen müssen Sie selbst. 

Eine Besonderheit des Programms ist, dass es viel Input aus den Ländern selbst gibt...

Es ist dort einiges in Bewegung geraten: Man merkt, es gibt hier Interesse, und man will diesen Zug nicht verpassen. Wir versuchen, Multiplikatoren wie Nelia Vakhovska aus der Ukraine direkt in die Programmgestaltung einzubeziehen, etwa als Moderatoren. Es ist mir wichtig, dass wir in einen Dialog eintreten, dass wir das Gefühl haben, einander wirklich etwas geben zu können. Es wäre falsch, in diesem Prozess die Richtung vorgeben zu wollen, das können, das dürfen wir nicht. Das wäre so arrogant wie dumm. Aber wir schaffen Kontakte und können bewirken, dass sich Autoren, Zeitschriften, Projekte untereinander vernetzen. Über Grenzen hinweg.

Konnten Sie bei der Vorbereitung frei agieren oder gab es Behinderungen? Themen wie "Zensur" sind bei den Offiziellen wahrscheinlich nicht so beliebt?

Sicher. Wir haben am Anfang versucht, die "offiziellen Stellen" einzubinden, da war die Reaktion nicht so ermutigend. Wir haben dann nicht mit den Ministerien, aber mit Stiftungen, Zeitschriften, kleineren Projekten gearbeitet. Wir wollen die Leute auch hier nicht ins Messer laufen lassen. Keinem ist geholfen, wenn wir ein noch mutigeres Statement aus ihnen herauskitzeln, und sie bei der Rückkehr verhaftet werden. Wir sind ja auch kein vordergründig politisches Unternehmen. Im Übrigen gehen die Mächtigen in diesen Ländern heute subtiler vor, es heißt nicht mehr: Wenn du nicht brav bist, kommst du ins Lager. Der Druck wird auf andere Weise ausgeübt: Devisenvergehen, Mietrecht, da gibt’s ein breites Spektrum... Und der Rest wird vom Markt erledigt.   

Sie haben oft beklagt, dass wir die Ukraine oder Weißrussland nur unter politischen Vorzeichen wahrnehmen. Aus den Herrschaftsbereichen von Lukaschenko und Janukowytsch erwarteten wir notorisch eher bad news. Aber was tut sich da jenseits der Tageschau-Meldungen? Was verpassen wir gerade literarisch?

Wir verpassen einiges, weil wir leider noch immer zu wenig übersetzen. Ich denke etwa an die hierzulande vollkommen unbekannte Marija Matios, Jahrgang 1959 − sie ist in der Ukraine eine Bestsellerautorin. Wir sollten diese Länder nicht nur über die Fernseh-Nachrichten kennenlernen − sondern über ihre Literatur! Gerade heute, wo wir alle der Meinung sind, dass dieses Europa wunderbar, aber doch zu bürokratisch ist − in Brüssel beschäftigen sie sich mit der Frage, wie groß die Essiggurkerl sein dürfen! Aber wo, bitte, bleiben Geist und Seele? Sollten wir uns danach nicht auch ein wenig umschauen im größer werdenden Europa? Wir sind da leider ein ganzes Stück hinters Erreichte zurückgefallen: Es war für uns, auch noch vor 1914, völlig klar, dass man etwa die wichtigen ukrainischen Autoren gekannt hat. Oft waren sie ja, in Galizien zuhause, sogar Österreicher. Wenn Sie eine Wiener Zeitung aufgeschlagen haben, fanden Sie Essays von Ivan Franko, Olha Kobylanska − große Namen, die wir heute gar nicht mehr kennen! Das war nix Exotisches − das war die normale Welt! Es ist kurios, dass die damals scheinbar größer war.

Fragen: Nils Kahlefendt

Martin Pollack, 1944 im oberösterreichischen Bad Hall geboren, war von 1987 bis 1989 Redakteur des "Spiegel" in Wien und Warschau. Seither ist er als freier Autor und Übersetzer tätig. Für sein Buch "Der Kaiser von Amerika" (Zsolnay 2010) erhielt er 2011 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung.

tranzyt. Literatur aus Polen, der Ukraine und Belarus auf der Leipziger Buchmesse 14. bis 17. März.

Lesen Sie auch unsere Vorschau zur Leipziger Buchmesse - "Treibhaus Ost" - im Börsenblatt Heft 7 (S. 14/15), das morgen erscheint.