Der Markt und die multinationalen Konzerne

Der Amazon-Komplex

19. Februar 2013
Redaktion Börsenblatt
Die skandalösen Arbeitsbedingungen von Amazon-Leiharbeitern in Bad Hersfeld sind kein Einzelfall. Sie sind zugleich ein Symptom des scheinbar ungebremsten Wachstumskurses großer, multinationaler Konzerne. "Flexible" Beschäftigungsmodelle, Steuervermeidung und Marktkontrolle sind die Begleitmusik dieser Entwicklung.

Das Internet-Unternehmen Amazon.com steht nicht erst seit der ARD-Doku vom 13. Februar (die nach der Sendung mehr als 1,5 Millionen Mal in der ARD-Mediathek aufgerufen wurde) in der Kritik. Doch die offenbar menschenunwürdigen Bedingungen, unter denen Leiharbeiter im Logistikzentrum Bad Hersfeld und an anderen Standorten arbeiten, und die nach Ansicht der Gewerkschaft Ver.di falschen Versprechungen, mit denen Leiharbeiter aus dem europäischen Ausland nach Deutschland gelockt werden, haben jetzt auch die Politik alarmiert. Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen hat eine Sonderprüfung der Arbeitsbedingungen von Amazon angekündigt. Der deutschen Tochter der niederösterreichischen Leiharbeitsfirma Trenkwalder, die bereits geprüft wird, hat von der Leyen mit dem Entzug der Lizenz gedroht. Amazon seinerseits hat zugesagt, die erhobenen Vorwürfe ebenfalls zu prüfen. Die Zusammenarbeit mit dem in der ARD-Sendung kritisierten Sicherheitsdienst Hensel European Security Services (H.E.S.S.), hat Amazon mit sofortiger Wirkung beendet – und jetzt auch die Zusammenarbeit mit dem Dienstleister, der für Transport und Unterbringung der Leiharbeiter zuständig war.

Die Arbeitsbedingungen bei Amazon wurden schon in der Vergangenheit mehrfach angeprangert: Angestellte in US-Logistikzentren des E-Commerce-Händlers klagten bereits im 2011 über Hitzestaus in den Lagerhallen; und nur wenige Tage vor der ARD-Doku brachte die „Financial Times" („FT") ein umfangreiches Feature über das Amazon-Lager im englischen Rugeley in der Grafschaft Staffordshire: Dort, in einer strukturschwachen Region, in der 1990 der Kohlebergbau eingestellt wurde, wurde Amazon zunächst als Hoffnungsträger begrüßt – wie auch in vielen deutschen Kommunen, die Amazon zur Ansiedlung neuer Logistikzentren rote Teppiche ausrollen.

„Die Rückmeldung, die wir bekommen, ist: Hier ist es wie in einem Sklavenlager", zitiert die „FT" den Vorsitzenden eines örtlichen Fürsorge-Centers für ehemalige Bergleute. Viele Mitarbeiter klagen über Blasen an den Füßen, die durch ungeeignete Sicherheitsstiefel verursacht würden. Manche Mitarbeiter würden in einer Schicht 15 Meilen (rund 24 Kilometer zurücklegen). Als besonders hart würden viele Angestellte den Arbeitsdruck empfinden. Laut FT hätten frühere Mitarbeiter berichtet, sie würden mit Taschencomputern durch die Hallen laufen, die immer genau anzeigten, ob sie im Plan arbeiten. Lagermanager hätten den Mitarbeitern auch schon einmal Textmeldungen geschickt, um deren Arbeitstempo zu beschleunigen. Jeff Bezos hat einmal über sein Unternehmen gesagt: „Wir sind freundlich und anstrengend, doch wenn es hart auf hart kommt, sind wir anstrengend (intense)".

Ein Problem ist laut Financial Times auch der Umgang mit befristeten Arbeitskräften: Vielen Saisonkräften in Rugeley und andernorts wird in Aussicht gestellt, übernommen zu werden – doch nur die wenigsten Mitarbeiter gehören zu den Glücklichen. Nach dem Weihnachtsgeschäft werden die meisten jedoch entlassen, Kündigungsschutzrechte genießen sie nicht. In der Vergangenheit wurden zudem unbezahlte Einarbeitungszeiten und sogenannte Kettenverträge moniert. Der Europäische Gerichtshof hat aber vor einem Jahr entschieden, dass Arbeitgeber ihren Arbeitnehmern mehrere befristete Verträge in Folge anbieten dürfen, wenn sachliche Gründe dies rechtfertigen. Ob diese im Fall Amazon vorliegen, müsste von Fall zu Fall geprüft werden.

Die Steuervermeidungspraxis gehört zu den weiteren Ärgernissen, die Amazons Image belasten. Die Geschäfte der europäischen Tochterfirmen werden laut "Livres hebdo" über Amazon S.a.r.l. und Amazon Europe Holding Technologies SCS in Luxembourg abgerechnet, wo die Mehrwertsteuer für verkaufte Artikel nur drei Prozent beträgt. Der Online-Riese hat ein ausgeklügeltes Netz an Gesellschaften gegründet, die sich untereinander Rechte abkaufen, Darlehen gewähren und über Ländergrenzen Gewinne in Staaten mit Niedrigsteuern verschieben. Ziel des ausgeklügelten, alle legalen Schlupflöcher nutzenden Systems ist es, die Steuerlast zu drücken (neben der Umsatzsteuer die Körperschaftssteuer und andere Abgaben) – im Idealfall auf Null.

Eine aktuelle OECD-Studie weist nach, dass einige multinationale Konzerne (Unternehmensnamen werden nicht genannt) weniger als fünf Prozent Körperschaftssteuer zahlen, während kleinere Unternehmen mit bis zu 30 Prozent belastet werden. Namentlich Amazon, Apple, Google und Starbucks mussten sich wegen ihrer Steuervermeidungspraxis bereits im britischen Unterhaus und in der französischen Nationalversammlung heftige Kritik gefallen lassen. Der britische Premier David Cameron hatte Presseberichten zufolge „Steuervermeidungsfirmen" wie Starbucks und Amazon einen Mangel an „moralischen Skrupeln" vorgeworfen. Man müsse dies System aufbrechen. Die französische Ministerin für die digitale Wirtschaft, Fleur Pellerin, kündigte ebenfalls an, die Harmonisierung der Steuersätze für E-Commerce-Plattformen in Europa voranzutreiben.

Auch die Bundesregierung will dem Steuerdumping von Amazon & Co. das Handwerk legen. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble sagte laut „Spiegel Online" am Rande des G20-Gipfels in Moskau, „multinationale Firmen sollten nicht die Möglichkeit haben, die Globalisierung als Mittel für unfaires Steuersparen zu missbrauchen". Es müsse ein internationales Rahmenwerk geschaffen werden, um dies zu verhindern.

Und mehr: die Marktkontrolle. Denn die Umleitung der Geldströme innerhalb des multinationalen Amazon-Komplexes dient nicht nur der Renditesteigerung. Sie verschafft Amazon gegenüber nationalen Unternehmen, die ihrer Steuerpflicht nachkommen, einen Wettbewerbsvorteil. Es können wesentlich größere Summen in neue Produkte und Dienstleistungen investiert werden, die nur ein Ziel verfolgen: einen möglichst großen Marktanteil und Innovationsvorsprung zu erreichen und einen Sektor des Buchmarkts zu kontrollieren. Ob der von Branchenexperten ermittelte Marktanteil Amazons am deutschen Buchgeschäft tatsächlich bei 20 Prozent liegt oder erst bei 15 Prozent, ist dabei unerheblich. Das Unternehmen wächst rapide weiter und setzt alles daran, eine komplette Buchinfrastruktur aufzubauen, die den bisherigen Buchmarkt für all jene überflüssig macht, die sich im Amazon-Komplex bewegen – vom Gebrauchtbuch (ZVAB) über verlagsneue Bücher (auch aus den Amazon-Buchprogrammen) und E-Books (Kindle Store), E-Reader, Hörbücher und Videos (Lovefilm.de).

Und nicht nur dies: Amazon ist inzwischen das Online-Kaufhaus, in dem viele Konsumenten Lebensmittel, Windeln, Waschmaschinen oder Motorroller einkaufen. Und sie tun dies nicht, weil sie dem Shopping in Einkaufszentren nichts mehr abgewinnen könnten, sondern weil es bequem und flexibel ist. Der Online-Endkundenhandel ist so das Gegenstück zu einem (Internet-)Alltag und einer Berufswelt, die nicht mit den Öffnungszeiten physischer Läden synchronisiert und immer kürzer getaktet sind. Und wenn der Service effizient ist, fragt kein Kunde nach den Auswirkungen auf den stationären Einzelhandel. Zugleich entgeht ihm, dass ein lokaler Händler die gleichen Online-Bestell- und Versandmöglichkeiten wie Amazon bietet. Hier gilt es, Bewusstseinsbildung im Sinne des „Buy Local" zu betreiben.

Laut einer Recherche der „FAZ" werden inzwischen manche Produkte bis zu 30 Prozent online bestellt. Setzt sich diese Entwicklung weiter fort, dürften viele Läden und ganze Einzelhandelszweige nicht mehr im Stande sein, ihre Geschäfte gewinnbringend zu betreiben. Dann besteht die Gefahr, das Einkaufsflächen zu Showrooms großer Online-Händler verkümmern.

Fazit: Amazon verhält sich in seiner Beschäftigungspolitik und in seiner Steuervermeidungspraxis wie die meisten anderen multinationalen Konzerne. Im Zuge eines scheinbar ungebremsten Wachstums werden grobe Fehler begangen und teilweise unhaltbare Zustände – man denke nur an Zulieferbetriebe von Apple – toleriert, bis investigative Medien und Politik auf die Missstände aufmerksam machen. Erst, wenn ein gewisser Grad an Skandalisierung erreicht ist, reagieren die meisten Unternehmen – wie jetzt Amazon. Transparenz, die nicht erst durch mediale Nachforschungen erzwungen wird, wäre das Gebot über die Stunde hinaus.

Michael Roesler-Graichen