Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik an Insa Wilke vergeben

"Sie besitzt den Eros der Vermittlung"

6. Juli 2015
von Börsenblatt

Roger Willemsen fühlt sich wohl unter ihrem „Protektorat“, und Börsenvereins-Vorsteher Heinrich Riethmüller hat Respekt vor dem Mut zur „freien Existenz“ einer Literaturkritikerin: Insa Wilke hat am Mittwoch auf der Leipziger Buchmesse den vom Börsenblatt gestifteten Alfred-Kerr-Preis entgegengenommen.

Es war womöglich das letzte Mal, dass das Berliner Zimmer auf der Leipziger Buchmesse die Bühne für diesen kleinen, feinen Festakt stellte – die es 23 Jahre lang engagiert betrieben haben, wollen nach dieser Messe aufhören. Über die Nutzung der Fläche ab dem kommenden Jahr werden nun Gespräche geführt. Kein Wunder also, dass  Vorsteher Heinrich Riethmüller und Börsenblatt-Chefredakteur Torsten Casimir mit Blick auf die eng gefüllten Stuhlreihen da ein bisschen Wehmut beschlich. Nicht ausgeschlossen, deutete  der Vorsteher an, dass man noch einmal überlegen müsse, ob das Berliner Zimmer nicht weitergeführt werden sollte.

Als hoch verdient lobte Riethmüller die Verleihung des Alfred-Kerr-Preises an Insa Wilke. Er zollte der Preisträgerin Bewunderung für ihren Mut zur „freie Existenz“, zumal sich die Bedingungen für Literaturkritik in den Redaktionen der Zeitungen und Sender in den vergangenen Jahren nicht zum Besseren entwickelt hätten. „Den Kulturjournalisten, die sich in den Zeitungen und Sendern für Literatur einsetzen, bläst der Wind seit Jahren stark ins Gesicht. Zeitungskrise, das Starren auf Quote und Popularität, immer weniger Platz und Sendezeit – jeder kennt die Stichworte der Misere“, führte Riethmüller aus. „Umso größer ist mein Respekt vor Leuten, die sagen: Ich mache das trotzdem. Weil Literatur mich begeistert. Und weil ich nach wie vor glaube, damit auf ein interessiertes, offenes Publikum zu treffen.“

In der sich anschließenden, mit großer Verve und Herzlichkeit vorgetragenen Laudatio bezeichnete Roger Willemsen Insa Wilke als eine „gute Zöllnerin“, die auf „ungewöhnliche und moderne Weise die Rolle der Literaturkritikerin interpretiert“ und die Sache der Literatur auf allen Feldern vertrete:  als Veranstalterin, als Dozentin, als kluge, hochbegabte Konzeptmacherin – etwa im Literaturhaus Köln. Willemsen sprach von einem „selbstbefeuernden Enthusiasmus für die Sache der Literatur.“ Wilke nutze ihr Privileg der öffentlichen Rede „für das Relevante.“
Ihre Fähigkeit, Impulse aufzunehmen, keine  Erkenntnisanstrengung zu scheuen, wie auch ihr Respekt vor der Literatur mache sie bei Autoren beliebt. „Sie besitzt den Eros der Vermittlung“, stellte Willemsen fest. Als eine, die das Handwerk des Fragens beherrsche, schaffe sie für ihre Gesprächspartner „Gelegenheiten zu blühen“ – deshalb habe er sich auch selbst immer sehr wohl unter dem „Protektorat“ von Insa Wilke gefühlt.
Insa Wilke nutzte dann die Gelegenheit ihrer Dankesrede, ihre „15 Minuten Ruhm“, wie sie es formulierte, für eine gewaschene Kritik der Literaturkritik. „Deutschland muss Haarausfall haben“, so fing sie an. „Dramatischen, unerklärlichen, beängstigenden, selbstverständlich Gegenmaßnahmen fordernden, scheußlichen Haarausfall.“ Anders sei nicht zu erklären, „warum so eifrig Locken auf Glatzen gedreht werden“. Scheindebatten wie die über die Kraftlosigkeit der Gegenwartsliteratur oder darüber, wie dick ein Roman heute sein dürfe, erteilte Wilke eine Absage. Auch an den Feuilleton-Betrieb hatte die Preisträgerin eine kritische Frage: „Wie soll man, frage ich Sie, eine gute Kritikerin werden, wenn man kaum Aufträge bekommt, sich also nicht in der tatsächlichen Reibung mit der Öffentlichkeit entwickeln kann? Wenn die Artikel, die man dann mal schreiben darf, maximal 2.500 Zeichen umfassen dürfen?“, fragte Wilke. Trotz solcher Widrigkeiten geht Insa Wilke ihren Weg einer unabhängigen und bereits weithin geschätzten Kritikerin. Börsenblatt-Chefredakteur Torsten Casimir überreichte ihr die Urkunde und verlas die Begründung der Preisjury, in der Wilke auch für ihre Bereitschaft gelobt wird, „Nebenwege“ einzuschlagen und Autoren „jenseits des Mainstreams“ Gehör zu verschaffen.