10 Jahre Buchhandlung SeitenBlick in Leipzig-Lindenau

"Gedicht an die Dauer"

28. April 2014
von Börsenblatt
Zehn Jahre Buchhandlung SeitenBlick in Leipzig-Lindenau: Ansgar Weber und Jacqueline Simon haben an ihr Viertel geglaubt, als es noch als Problem-Kietz galt. Inzwischen gehört es zu den lebendigsten der Stadt. Am Wochenende wurde mit Lesern und Unterstützern gefeiert. 

Anfang 2004 bekommt Mark Lehmstedt im Büro seines noch jungen Verlags in Leipzig-Lindenau Besuch von einem jungen Paar: Der gebürtige Franke Ansgar Weber und seine Frau Jacqueline Simon erbitten sich Tipps für die Gründung ihrer Buchhandlung gleich um die Ecke. Grundsätzlich rät ein Verleger da freudestrahlend zu, sind Sortimenter doch seine natürlichen Verbündeten. Doch im abgerockten Leipziger Westen, am Lindenauer Markt? "Gründet, macht, legt los", so Lehmstedt damals. Aber: "Auf keinen Fall hier!"

Wenn sich zehn Jahre später alle vermeintlichen Vernunftgründe als gegenstandslos herausgestellt haben, ist das vor allem den neugierigen Lesern und Stammkunden zu danken. Denen also, die den Eckladen zum Geburtstagsfest mit Blumen, Selbstgebackenem und Geschenken förmlich überrennen. Dass aus dem argwöhnisch beäugten Experiment eine Erfolgs-Story wurde, kann, so Weber nüchtern, an "Menschen und Umständen" festgemacht werden.

Zuallererst: Zwei wagemutige Seiteneinsteiger mit einem gemeinsamen Traum. Autoren, Vertreter, Verleger oder Buchhandelskollegen, die bei dessen Umsetzung helfen. Ein rühriger Stadtteil-Verein, der im Verbund mit der kommunalen Wohnungs- und Baugesellschaft ein geeignetes Ladenlokal aufspürt. Kultur-Multiplikatoren und Netzwerker im Kietz, wie das Theater der Jungen Welt oder das Quartiers-Management im Leipziger Westen. Nicht zu vergessen: Regine Lemke, die Mutter Courage vom Landesverband, die den Gründern Türen in der Branche aufstößt − heute engagiert sich Ansgar Weber übrigens selbst im SaSaThü-Vorstand.

Und schließlich ist da noch Lindenaus wundersame Wandlung vom Problem-Viertel zum Trend-Quartier: Kreative, Studenten und junge Familien auf der Suche nach günstigem Wohnraum haben dem einst abgehängten Stadtteil in den letzten zehn Jahren neues Leben eingehaucht. Alle reden von "Hypezig" − und meinen damit auch die quirligen Straßenzügen um den Lindenauer Markt. Vieles ist hier in Bewegung, fast alles möglich. Auch eine Buchhandlung. Nein, besser: Gerade die wird hier dringend gebraucht. 

Gefeiert wurde am Wochenende mit Kaffee, Pizza und Kuchen, Sekt und fränkischem Bier, Cello-Musik und einer launigen Lehmstedt-Laudatio, am Ende ein Plädoyer mit Ausrufezeichen: Für unser immer noch ziemlich einzigartiges „Gesamt-System“ aus kleinen, mittleren und großen Buchhandlungen. Ein Netzwerk, ohne das die literarische Landschaft der Republik schlicht nicht existieren würde. Das SeitenBlick-Schaufenster ist in den nächsten Wochen fest in der Hand der Kunden: Sie haben Gelegenheit, Bücher auszuwählen, die ihnen besonders am Herzen liegen, die sie mit "ihrer" Buchhandlung verbinden, und sie mit kurzen Texten zu präsentieren.

Inmitten des Trubels zückt Ansgar Weber eine Ansichts-Karte aus dem Jahr 2004, die er seitdem wie einen Talisman hütet. Geschrieben hat sie der Übersetzer Andreas Tretner, der nun leibhaftig unter den Gratulanten ist: "Die Lindenauer", steht da, "werden euch hoffentlich mögen". Keine Frage, das tun sie. Mehr noch: Als lebendiger Ort für Lesungen, Ausstellungen, literarische Aktionen, für Begegnungen und Gespräche ist der SeitenBlick längst Teil des Viertels. Eine Beziehung mit Potenzial, hofft Ansgar Weber; das Handke-Bändchen, das er seiner Frau schenkt, ist eine Ansage. Der Titel? "Gedicht an die Dauer".