Hauke Hückstädt über einen neuen Markt

Schlange vorm Weltkiosk

27. März 2018
von Börsenblatt
Alle beklagen Leserschwund. Dabei wächst gerade ein riesiges Auditorium – und dahinter entsteht ein neuer Markt, der allen hilft. Frankfurts Literaturhausleiter Hauke Hückstädt macht ermutigende Erfahrungen.

Nichts hätte einen weiteren Besucherrekord der diesjährigen Leipziger Buchmesse aufhalten können. Nichts – außer: Schneefall und die Bahn! Das meteorologische Tief zog von dannen und irgendein Hoch folgt immer. ­Anders das Tief über der Branche, die eine Million Leser, die der deutschsprachige Buchhandel in diesem noch jungen Jahrhundert jährlich abdriften sieht. Doch wo etwas verloren geht, schaut man sich besser genauer um. Denn kein Wachstums-diagramm der Branche weist so unaufhaltsam nach oben wie das des Buchs unter Live-Bedingungen – siehe Leipzig. Die Nachfrage auf die Begegnung mit Autoren, Übersetzern, Kritikern, die mit ihren Büchern, Themen und Diskussionen das A und O einer offenen Gesellschaft vorleben, nimmt seit Jahren zu. Das vermeintlich "gute, alte Lesen" mag an Sichtbarkeit verloren haben. Das Vorlesen, der kollektive Austausch, das Buch als Begegnungsstifter wird wesentlicher. Die schönste Arena für ein Buch ist der Autor im Gegenüber seiner Leser.

Um Bücher, die erlebbar werden, bildet sich derzeit ein anspruchsvolles Auditorium. Es ist frei von altem Distinktionsdünkel und es versichert sich der Welt im Angesicht ihrer genauesten Beschreiber: Autoren, Wissenschaftler, Übersetzer, Kritiker, Illustratoren. Die Veranstaltung ist nicht mehr nur Buchvermittlung. Sie stellt auch Zeit bereit, in der wir einmal nicht "available" waren, sondern in Gemeinschaft. Zeit, in der wir im Autor schon gelesen haben, ehe wir Muße fanden, das Buch aufzuschlagen.

Die Optimierungskultur hat längst unsere Aufmerksamkeitsökonomie erreicht. Der Umsatz an Büchern, Emotionen, Leserbindung aber nimmt dort zu, wo Autoren und Leser sich gelingend begegnen. Denn die mächtigste Achse zwischen Buch und Käufer ist die Blickachse zwischen Autor und Publikum. Und gute Unterhaltung ist ein Hochleiter für all das Wissen und all die Unterscheidungskunst, die wir heute mehr denn je brauchen.

Es sind die Leseprogramme der Buchhandlungen, die Festivals, die Literaturhäuser, die Bildungszentralen, die Schul- und Kinderlesungen, es sind all diese Kleinprogrammierer, die seit Jahren den Unterschied machen, der jetzt erkannt werden will. Denn dort bei den Lesungen mehren sich Kundschaft und Leser. Das Literaturhaus Frankfurt und seine beteiligten Buchhandlungen haben in den letzten acht Jahren ein Umsatzplus an Buchverkäufen bei Lesungen von durchschnittlich jährlich zehn Prozent verzeichnet. Das ist nichts Flüchtiges, das ist nur ein Beispiel für das förderbare Interesse. Diesem Auditorium geht es um Teilhabe, Erkenntnis, Gefühl, um Wahrhaftigkeiten, um Spaß an Literatur, um pixelfreie Erfahrung: "Die Realität wird wieder zum wichtigsten Ort auf dieser Welt" (Thomas Hettche).

Wenn es stimmt, dass die größte unabhängige Verkaufsfläche für ein Buch der Autor in der Begegnung mit seinen Lesern ist, dann sollten sich alle Beteiligten hinterfragen. Die Erwartungen an die Distributoren der Zukunft steigen, ihre Aufgaben werden komplexer. Für die Verlage, den Buchhandel, die Autoren und die Veranstalter wird es dabei nicht um Schub­umkehr, sondern um Liebe zum Detail gehen. Sie alle lernen jetzt, was ihre potenzielle Kundschaft technologisch und als Anspruchshalter schon alles beherrscht und ihnen voraushat. Es geht um Gegenwärtigkeit für alle, um Unterhalt und Unterhaltung. Es geht um Zukunft. Es geht um Leserbindung und Wachstumsmarkt für den Weltkiosk Buchhandlung. Es geht um Signierschlangen und Präsenz. Es geht um Anschluss an die Präsentationsstandards der Besten. Denn jede Veranstaltung ist nur so groß, wie ihre Form und ihr Inhalt es zulassen, jede schlechte Veranstaltung kostet Leser. Es gibt größere Branchen, in denen weitaus kleinere Dinge – Cupholder und Müdigkeitswarner – über Serienerfolg oder -flop entschieden haben. Der künftige Umsatz von Literatur wird abhängen von dem Leserverständnis und dem Vermittlungs-Know-how, das wir jetzt aufbringen.