Buchmarkt Religion und Spiritualität

Griff zum Kompass – oder zum Kochlöffel

25. Februar 2016
von Christiane Petersen
Fördern die vielen aktuellen Krisenherde die Sinnsuche? Jein. Denn während die einen sich mithilfe von Büchern über die politische Weltlage informieren, ziehen sich die anderen an den Herd zurück: Ernährungsfragen werden zur Ersatzreligion.

"Grundsätzlich ist es ja nichts Neues, dass viel los ist in der Welt. Aber derzeit werden wir von wesentlichen Herausforderungen regelrecht gejagt", konstatiert Ralf Tibusek, Sprecher des Brunnen Verlags. Tatsächlich, die Welt ist in Bewegung: Der Terror in Paris, die Verfassungskrise in ­Polen und ein europaweiter Rechtsruck geben Anlass zur Sorge. Und die Finanz-, die Griechenland-, die Krim- und die Europakrise sowie der Klimawandel sind nur in den Hintergrund der Bericht­erstattung getreten, weil im Moment die Flüchtlingsströme im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Sorgt die derzeitige "Krisendichte" für eine verstärkte Nachfrage nach spiritueller Literatur?

Eine Kurzumfrage im Buchhandel ergibt eine überraschend einhellige Meinung: Die Nachfrage nach spirituellen oder religiösen Büchern, die der eigenen Sinnsuche und Orientierung dienen, wächst nicht. Sehr wohl aber das Interesse an Titeln, die Fakten und Hintergrundinformationen zu den derzeitigen Krisenherden bieten, insbesondere zum Flüchtlingsthema. "Während der Banken- und Finanzkrise 2008 kauften die Kunden mehr spirituelle Bücher, damals ging es ihnen um Reflexion und die eigene Sinnsuche. Jetzt ist erklärende Literatur gefragt, Hintergrundinformation zum Islam und den Flüchtlingen", berichtet Karin Fuhrmann von der Frankfurter Buchhandlung Carolus Bücher. Vielleicht hätten sich die Kunden damals direkter betroffen gefühlt, überlegt sie. Besonders begehrt seien derzeit der Titel "Entängstigt euch!" des Theologen Paul M. Zulehner (Patmos) sowie die Bücher Navid Kermanis, Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels.

Die Zeichen der Zeit 
Ein Blick in die Programme der religiösen Verlage zeigt, dass fast alle Verlage die Zeichen der Zeit erkannt haben und neben vielen anderen Themen einen breiten Lektüre-Fächer rund um die Themen Flucht, Vertreibung und Islam anbieten. Und das nicht erst, seitdem das Thema in Deutschland virulent ist. Brunnen hat bereits vor über einem Jahr "Ich glaube an die Tat" von Schwester Hatune Dogan ins Programm genommen, "die Autorin hat schon damals auf die sich ankündigende Flüchtlingskatastrophe hingewiesen", erklärt Ralf Tibusek.

Was für den Brunnen Verlag gilt, gilt auch für die meisten anderen Verlage, die sich längst mit der Entwicklung im Nahen Osten und den sich abzeichnenden Flüchtlingsbewegungen beschäftigt haben. "Wir veröffentlichen seit jeher zahlreiche Werke von Islamwissenschaftlern bei Herder und die Nachfrage nach ihren Texten steigt", stellt Verleger Manuel Herder fest. Gerade ist in seinem Verlag "Emanzipation im Islam – eine Abrechnung mit ihren Feinden" von Sineb El Masrar erschienen. Ein Titel, der für eine Modernisierung des Islam plädiert; die Autorin, die Herausgeberin und Chefredakteurin des Frauenmagazins "Gazelle" ist, fordert: "Wir brauchen eine islamisch-weibliche Reformation." Das Buch sorge für eine Menge mediale Aufmerksamkeit, so Herder.

Doch nicht nur erläuternde Hintergrundinformationen sind gefragt, auch der Koran selbst wird verstärkt gekauft. Ein Blick ins Thalia-Buchhandlungsregal im Hamburger Elbe-Einkaufszentrum zeigt: Neben acht Ausgaben der Bibel stehen fünf des Koran, erschienen bei Herder, Reclam, Goldmann, Heyne und C. H. Beck. Gerade schaut eine Kundin in die Bücher hinein: "Ich engagiere mich in der Flüchtlingshilfe und hoffe auf Erkenntnisse. Wir müssen die Religion und die Geschichte der Menschen, die herkommen, verstehen, um die Situa­tion verbessern zu können", sagt sie und entscheidet sich für die Ausgabe von C. H. Beck. "Erscheint mir am zugänglichsten", sagt sie.
Titel, die Verlage schon länger im Programm oder aber in der Planung haben, erhalten durch die Flüchtlingsdebatte eine erhöhte Aufmerksamkeit. "Zum Teil haben wir Bücher in dem Themenfeld aus Relevanzgründen ins Frühjahrs­programm vorgezogen", erklärt Sigrid Fortkord, Presseleiterin beim Güters­loher Verlagshaus.

Trend zum Cocooning 
Nicht alle Menschen suchen Antworten und Hilfestellungen. Buchhändlerin Sinje Hansen von der Buchhandlung Lüders in Hamburg Eimsbüttel beobachtet einen weiteren Trend. "Auch bei uns steigt bei einigen Kunden das Interesse am Islam, genau genommen ist es weit größer als das Interesse an der eigenen Religion", sagt sie. "Andere dagegen reagieren aus Überforderung mit Rückzug." Deshalb gibt es ihrer Meinung nach eine verstärkte Entwicklung zum "Cocooning". "Fast könnte man den Eindruck haben, dass Kochen und Ernährung die neue Reli­gion sind, selbst als literarische Buchhandlung verkaufen wir Kochbücher wie geschnitten Brot." Auch Lyrik sei gefragt. Die Erfahrung der Sortimenterin: Wenn es den Menschen schlecht geht, gehe es der Lyrik gut.
Claudia Lueg von der Verlagsgruppe Patmos bestätigt den Eindruck einer zweigeteilten Leserschaft. Eine Gruppe suche nach Orientierung und sei bereit, sich für eine gesellschaftliche Veränderung einzusetzen. Eine andere Gruppe empfinde die derzeitige Situation als so unübersichtlich und überfordernd, dass sie sich in die eigenen vier Wände zurückziehe, backe, stricke, Marmelade koche. "Als Verlag sehen wir unsere Aufgabe darin, mit Büchern auf die Probleme hinzuweisen, sie zu analysieren." Es gehe darum, Wege des Umgangs mit den aktuellen Krisen aufzuzeigen und die Leser dabei zu unterstützen, etwas für ihr Leben und für die Gesellschaft zu tun, gerade in Krisenzeiten.

Die Menschen aus ihrem inneren Rückzug zu locken, sie auf ihrer Sinnsuche zu begleiten und ihnen Eckpfeiler der Orientierung zu bieten – neben aller Aufklärung über brisante Themen bleibt dies eine wichtige Aufgabe religiöser Verlage. "Sinnsuche ist ja nicht nur ein Thema für Kirchgänger", erklärt Uwe Globisch, Programmleiter Religion beim Kösel Verlag. "Wir spüren ein größeres Bedürfnis nach Orientierung, das sich vor allem an bedeutende religiöse und spirituelle Persönlichkeiten richtet." Bei Kösel treffe dies momentan vor allem auf den großen Erfolg von Papst Franziskus und seinen Titel "Der Name Gottes ist Barmherzigkeit" zu, aber etwa auch auf die Bücher des Dalai Lama.

Wege der Verständigung 
Um der derzeit spürbaren Radikalisierung entgegenzuwirken, setzen viele christliche Verlage auf den Dialog zwischen den ­Religionen. Ein Ansatz, dessen Erfolg unter anderem die Bücher Navid Kermanis belegen. Auch der Vier-Türme-Verlag sieht in der Begegnung und gegenseitigen Auseinandersetzung einen Weg zur Verständigung. "Wir suchen Berührungspunkte, an denen die Reli­gionen ins Gespräch kommen", erklärt Verlagsleiter Bruder Linus Eibicht. "Unsere Bücher sollen einen offenen Raum schaffen für die Begegnung mit uns selbst und mit Gott, ohne einer moralischen oder religiösen Forderung entsprechen zu müssen." Auch dem Bedürfnis vieler Menschen nach Rückzug und Kontemplation wolle man im Verlag in Münsterschwarzach Raum geben. "Hier bei uns im Kloster und mithilfe unserer Bücher können die Menschen Ruhe finden, um dann gestärkt wirken zu können", so Eibicht.
Keine Frage: Derzeit steht der Islam im Fokus des Interesses. Hentrich & Hentrich-Verlegerin Nora Pester setzt sich dafür ein, dass auch das Judentum zu aktuellen Themen gehört wird. Ihr Verlag hat sich auf jüdische Themen spezialisiert. Gerade zum Thema Flucht und Vertreibung könne das Judentum interessante Aspekte aufzeigen, erklärt Pester. "Wenn sich jemand mit dem Exil auskennt, dann sind das die Juden." Konkrete Hilfe für den Alltag ist nicht unbedingt das Ziel von Hentrich & Hentrich: "In Krisen und bei gesellschaftlichen Entwicklungen befragen wir im Judentum die Schriften und bieten deshalb zunächst recht wenig 'Erbauungs­literatur'", so Pester. Das will die Verlegerin in kleinen Schritten ändern: "Im Herbstprogramm bringen wir erstmals auch ein jüdisches Trostbuch heraus, das aus rabbinischer Sicht Anregungen gibt, wie mit dem Thema Tod und Sterben umgegangen werden kann."

Konkrete Flüchtlingshilfe 
Über die klassische Verlagsarbeit hinaus ­engagieren sich religiöse Verlage derzeit in beeindruckender Weise für eine Verbesserung der Flüchtlingssituation. Da kann die Hilfe ganz praktisch aussehen: 30 Flüchtlinge haben etwa im Kloster Münsterschwarzach ein neues Zuhause gefunden. Der SCM Verlag bringt Flüchtlingen das Leben und den Glauben in Deutschland näher, indem er ihnen gemeinsam mit ERF Medien unter dem Titel "Welcome. Was Christen glauben" ein kostenloses multimediales Angebot auf Arabisch und Deutsch zur Verfügung stellt. Die Nachfrage ist groß: Das Buch hat mittlerweile eine Auflage von 35 000 Stück erreicht. Auch eine zweisprachige Ausgabe des Neuen Testaments und ein Magazin zum ­Leben und Glauben in Deutschland bietet der Verlag kostenlos an. "Wir haben schon mehrfach nachgedruckt, das Magazin hat mittlerweile eine Auflage von 150 000 Stück", freut sich SCM-Sprecher Jürgen Asshoff.
Herder hat eine ähnliche Initiative gestartet und bietet Flüchtlingen kostenlos zweisprachige Apps mit ersten Informationen zum Leben in Deutschland. "Wir verzeichnen mittlerweile viele Tausend Downloads", berichtet Manuel Herder.
Die Welt ist in Bewegung – und mit ihr die Verlagswelt. Der Blick ins Jahr 2016 bleibt optimistisch. "Bei Patmos heißt unser Slogan: 'Lebe gut. Und lebe das Gute.' Wir wollen nicht asketisch die Welt retten, sondern mit Freude und Gestaltungswillen zur Verbesserung der Welt beitragen – und das werden wir auch weiterhin tun", erklärt Claudia Lueg.