Gastspiel

Das Comeback des Schlüpfers

6. Juli 2015
von Börsenblatt
Gefährdete Wörter und sexgestählte Seminaristen. Rainer Moritz, Literaturhaus Hamburg, im Erotik-Workshop.

Beim ersten Mal stutzte ich nur. Beim ersten Mal glaubte ich, dass der "pinky Schlüpfer" nichts zu sagen habe und auf eine stilistische Verirrung hindeute. Beim dritten Mal hingegen, als eine aufgeschlossene Frau in den Dreißigern, unironisch und ohne mit der Wimper zu zucken, ihrem Text das Wort "Schlüpfer" einverleibte, verstand ich die Welt nicht mehr. "Schlüpfer" – war das nicht eine Vokabel aus Omas Wäscheschrank, als in Familien Sex nur im Dunkeln und bei heruntergelassenen Rollläden praktiziert wurde? Und hatte es 2007 nicht auf Spiegel Online den Wettbewerb "Das bedrohte Wort" gegeben, bei dem der gute alte Schlüpfer immerhin Platz 10 erreichte, besiegt nur von "Kleinod", "Labsal", "Lichtspielhaus" oder "blümerant"?

Doch seitdem ich vor Kurzem mit Olaf Kutzmutz an der feinen Bundesakademie für kulturelle Bildung in Wolfenbüttel einen mehrtägigen, mit "Eine Frage der Technik?" schön betitelten Workshop Erotisches Schreiben leiten durfte, bin ich ins Grübeln gekommen. Ist es möglich, dass moderne junge Frauen genug von Slips, Strings und Tangas haben und sich gegen die Übersexualisierung unserer Gesellschaft wenden? Soll, so frage ich mich, der solide Schlüpfer, den man sich nur weiß oder pastellfarbig vorstellen kann, eine Renaissance erfahren? Soll der nicht minder solide Geschlechtsverkehr nach Hausmacherart den komplizierten Varianten in Charlotte Roches Romanen wieder den Rang ablaufen?

Ja, wenn ich Revue passieren lasse, was mir in Wolfenbüttel widerfuhr, will es mir scheinen, als hörte ich einen Protestschrei, wenn unverklemmte Literaten zur Sache kommen und zwischen all den Hardcorevokabeln mit dem (keineswegs ausgeleierten) Schlüpfer ein Refugium des Verlässlichen schaffen. Spätestens als nach der zweiten Schreibaufgabe, die auf der Grundlage von Bettina-Rheims- und Helmut-Newton-Fotos erneut sehr Eindeutiges hervorbrachte, sogar das Wasser der Oker schneller rauschte, zeichnete sich auf den Gesichtern der Dozenten und der Teilnehmer eine gewisse Abgebrühtheit ab. Kaum eine der gängigen Vokabeln, die sekundäre oder primäre Geschlechtsteile bezeichneten, lockte mehr als ein müdes Lächeln hervor. Selbst als ich auf das demnächst erscheinende Werk "Feuchte Wörter. Kleine Linguistik der obszönen Sprache" des Romanisten Hans-Martin Gauger hinwies, notierte sich kaum einer diesen Buchtitel: Was will uns dieser Mann noch sagen?, meinte ich in den Augen der sexgestählten Seminaristen zu lesen.

Erst als ein ums andere Mal der "Schlüpfer" Einzug in die erotische Prosa hielt, nahm die Diskussion, die sich ansonsten an Erzählperspektiven oder schiefen Bildern aufhielt, Fahrt auf. Hätte ich zuvor Stein und Bein geschworen, dass der Schlüpfer – in der Realität wie in der Literatur – eine abtörnende Funktion hat, so sehe ich die Welt nach Wolfenbüttel anders. Wir werden, quasi als Kontrastprogramm, zu all den eindeutigen Wörtern, die ich an dieser Stelle nicht zitieren möchte, alsbald ein Comeback dieses Wäschestücks erleben. Und vermutlich wundern wir uns dann keinen Deut darüber, wenn wir Sätze lesen werden wie "Als sie ihren Büstenhalter und ihren Schlüpfer ablegte, ging er ran wie Blücher" und dabei aufatmen. Schließlich droht auch die Erinnerung an Generalfeldmarschall Blücher zu verblassen.