Jochen Jung über Zahlen und das Verstummen der Kunst

Leben in der Übergangszeit

12. April 2018
von Börsenblatt
Kreativität verhilft manchen Buchhändlern zum Erfolg. Doch es fehlt die Wunderidee, die den Einkauf von zeitfressenden Leseangeboten in überladenen Läden lenkt und fördert. Meint Jochen Jung.

Buchleser wissen es schon lange: Die Welt verändert sich, wir nicht. Das ist nicht konservativ, sondern menschlich, und weil es menschlich ist, ist es auch ein wenig dumm. Vor einigen Wochen haben wir in unserer Vereins­zeitung – wenn ich das Börsenblatt einmal so nennen darf – Verkaufszahlen von 2017 gelesen, und uns allen ist dabei etwas schwummerig geworden: Die Tendenz der letzten Jahre ist eindeutig, und in Wahrheit haben wir aufgrund eigener Erfahrung auch nichts anderes erwartet.

Das Wort Börsenverein betont ja unverhohlen die ökonomische Seite unseres Tuns und Nicht-Lassen-Könnens, und obgleich viele von uns sich in erster Linie als Kulturarbeiterinnen verstehen, wissen wir alle nur zu gut (auch wenn uns dabei schlecht wird), dass, wenn die Zahlen nicht stimmen, auch die Kunst verstummt. Und die Zahlen stimmen nicht. Und sie werden nicht besser werden, wie sollten sie? Dabei ist das Angebot nach wie vor entsprechend und überaus vielfältig, das alles hat nichts zu tun mit der Qualität der Bücher. Die ist nach wie vor tadellos und für den "unverbesserlichen" Leser verführerisch.

Aber spätes­tens, als bei Suhrkamp der erste Krimi erschien, war offenkundig, dass die Branche begriffen hatte, was die sogenannten Leute so lesen wollen. Und die zahlreichen fantasievollen Ideen des Buchhandels (siehe die vielen Artikel im Börsenblatt) mögen dem Umsatz der einen oder anderen lokalen Buchhandlung ein wenig geholfen haben, aber die Wunder-Idee, die den Einkauf von zeitfressenden Leseangeboten (vulgo: Bücher) in überladenen Läden lenkt und fördert, haben wir noch nicht. (Die Bäcker machen inzwischen denselben verwirrenden Fehler, und alle kennen wir das Gefühl, wenn zu Hause der Senf aus ist und man bei Metro vor den Regalen mit ­50 Senfsorten steht.)

Und wie soll die Händlerin einem individuellen Käufer, den sie – fast – nicht kennt, etwas ebenso Individuelles empfehlen wie ein Buch? Kein Wunder, wenn sie dann bei dem Wunsch, nichts falsch zu machen, einfach zu dem aktuellen Seller greift.

Wir leben in einer Übergangszeit, und uns allen wird mulmig, wenn wir das Wort "Amazon" hören, unsere (ehemaligen) Kunden hingegen atmen dabei auf und fühlen sich erleichtert. Warum schließt sich nicht der ganze Buchhandel zusammen und rüstet seine eigene Amazone auf?, denkt man da, wohl wissend, was das heißen würde.

Seit der Erfindung der Supermärkte wissen wir, was die Zukunft des Einzelhandels ist, aber wir wollen es einfach nicht glauben. Natürlich hat das für Einzelne sehr hässliche wirtschaftliche und soziale Folgen, aber Mitleid hält keine Entwicklung auf: Was uns bevorsteht, steht schon vor der Tür.

Ist es nicht auch schön, wenn es der Postbote ist, der da steht und einem ein Paket bringt, das man gespannt öffnet und in dem man dann ein Buch findet, das man lesen will? Das freut selbst, wenn eine Rechnung drunter liegt.