Schöne Novitäten aus unabhängigen Verlagen

Gut unterhalten

23. März 2017
von Börsenblatt
Auf der Leipziger Buchmesse sind die unabhängigen Verlage stark vertreten. Ihre Bücher können Sortimenter jetzt schon ins Regal stellen: Die Bandbreite ist überwältigend.

Zum Blättern schön
Manche sind seit Generationen im Familien­besitz, andere neu gebaut: Drei Viertel der russischen Großstädter fliehen an Wochen­enden in ihre Datschas aufs Land. Fotograf Evgeny Makarov hat das improvisierte Leben in Datschas in der Nähe von St. Petersburg beobachtet. Das Unkontrollierte, Einfache übt eine große Faszination aus.

Evgeny Makarov, Lew Rubinstein: "600 m² Glück. Die Datscha", Sieveking, 148 S., 39,90 €

Keineswegs nur für Tucho-Fans 
Der bindungsunfähige Tucholsky ist hier die Folie, vor der wir in die Biografien von zwölf Frauen eintauchen. Sängerinnen wie Gussy Holl, Ärztinnen wie seine erste Frau Else Weil, Journalistinnen wie Gabriele Tergit und Vicky Baum – sie haben ihm unterschiedlich nahe­gestanden. Unda Hörner schreibt und wertet so, dass der Leser schnell in den Zeitläuften der 20er und 30er Jahre zu Hause ist und die emanzipierenden Bewegungen mitvollzieht.

Unda Hörner: "Ohne Frauen geht es nicht. Tucholsky und die Liebe", Ebersbach & Simon, 144 S., 16,80 €

Gedankenflüge
Herbert Maurer ist ein großartiger Fabulierer, der uns schon vor 20 Jahren die veneziani­schen Maler mit seinen Verwirrkünsten näher­gebracht hat. Nun geht er Lord Byrons Spuren in Venedig und der armenischen Grammatik nach (die er beherrscht!), unterhält essayistisch, lockt den Leser von einem Gedanken zum nächsten – ein würdiger Nachfolger E. T. A. Hoffmanns. Bei so viel Dichtung wird die Wahrheit nicht vermisst.

Herbert Maurer: "Byron schwimmt und ertrinkt in seinem Zimmer", Klever, 118 S., 17 €

Abgefahren
Ein abwechslungsreicher Querschnitt aktueller Literatur aus Tschechien: Gedichte, Erzählungen und Songs von 23 jungen Autoren; ungewohnt, traurig, frech und frisch. Sie erzählen Geschichten, in denen bisweilen alles zu spät ist, es aber trotzdem weitergeht. Die originelle Sammlung von Miniaturen und Provokationen, Alltäglichem und Unerhörtem ist eine Fahrkarte, die in mehreren Zonen gilt: Manchmal kommt man bei sich selbst an – oder doch ganz woanders.

Martin Becker, Martina Lisa (Hrsg.): "Die letzte Metro. Junge Literatur aus Tschechien", Voland & Quist, 208 S., 18 €

Gegen den Melkmaschinentakt
Weder heitere Landlust noch Romantik durchwehen Herbings rauen Roman: Für die junge Ich-Erzählerin, die mit dem Sohn eines Milch­bauern zusammengezogen ist, hält das platte mecklenburgische Land nur gleichförmige Lebensrhythmen bereit. Mehr und mehr lehnt sie sich auf, wird von Zerstörungslust erfasst, sie verweigert sich der Arbeit auf dem Hof, legt Feuer, vergiftet, geht fremd und entfremdet sich. Eine ungeschminkte Schilderung der ums Überleben kämpfenden Bauern und einer Gesellschaft in der Identitätskrise.

Alina Herbing: "Niemand ist bei den Kälbern", Arche, 224 S., 20 €

Leise Nachbeben
Zwei Welten prallen in den 70er Jahren an der dalmatinischen Küste aufeinander, wenn die kroatischen Jungs auf Touristinnen und deren Töchter treffen. Lakonisch, aber warmherzig erzählt Ferić, wie beide nach unterschiedlichen Taktiken vorgehen, wie die Begegnungen sie verändern, wie Sehnsüchte und Fragen entstehen und stumme Melancholie bleibt. Ferić erweist sich als stiller Beobachter der Küstenbewohner, der Anteil an seinen Figuren nimmt.

Zoran Ferić: "In der Einsamkeit nahe dem Meer", Folio, Mai, 200 S., 22 €

Bärenträume
Als würden wir mit Romana Ganzoni am Küchentisch oder in der Rhätischen Bahn sitzen und ihr zuhören, wie sie von Kindheiten in den Engadiner Bergen erzählt: ein Erzählstrom, in den man eingesogen wird. Und plötzlich ist man mit allen Figuren in den Geschichten vertraut, mit ihren Eigenheiten, Stimmungen, der Landschaft, der Rebellion wie der Resignation. Ein Band mit ­Erzählungen, die im Leser weiterflüstern.

Romana Ganzoni: "Granada Grischun", Edition Blau, 200 S., 26 €

Innenansichten der Republik
780 km durch sechs Bundesländer ist Fotograf Dirk Gebhardt gereist, hat seine Beobachtungen in Bild und Text kommentiert und durch Statistiken ergänzt. So sehen wir Landärzte, Ziegenhirten, Bürgermeister und Flüchtlinge und erfahren, dass es 2016 in Deutschland 14.986 Schützenvereine gab, jeder Vier-Personen-Haushalt 6.150 kWh Strom verbraucht hat und 114.423.192-mal Museen besucht wurden. ­Unkonventionelle Einblicke.

Dirk Gebhardt: "Quer durch. Deutschland von West nach Ost", Nimbus, 280 S., 29,80 €

Hund als Hoffnungsschimmer
Gar nicht so einfach, sich in diesem fremden Land zurechtzufinden, in dem selbst die Buchstaben ganz anders sind: Nachdenklich berichtet der mit dem Boot übers Meer geflüchtete Junge von seinen Erfahrungen. Und wartet, dass sein Hund King bald nachkommt – und mit ihm ein Stück Heimat. Die Bild-Text-Kombination offenbart, wie unmöglich das scheint, aber auch wie überlebenswichtig die Hoffnung ist.

Andrea Karimé: "King kommt noch", Peter Hammer Verlag, 48 S., 9,90 €, ab 6

Blick hinter Nils-Holgersson-Kulissen
Emotional heftige Sturmwinde durchfegen die Briefe, die Literatur­nobelpreisträgerin Lagerlöf an ihre beiden Geliebten geschrieben hat. Die Auswahl, die der frühere Stockholmer Börsenblatt-Korrespondent Holger Wolandt aus Archiven zusammen­gestellt, übersetzt und kenntnisreich kommentiert hat, zeigt sehr offen das Ringen um Liebe und Eifersucht zwischen den Frauen. Und bietet drei ganz unterschiedliche Biografien. Lesenswert!

Selma Lagerlöf: "Liebe Sophie. Liebe Valborg. Eine Dreiecks­geschichte in Briefen", Urachhaus, 366 S., 24,90 €

Aufgeben ist keine Lösung
Unsicherheit herrscht in Europa, freie Wahlen sind Vergangenheit, Zonen und Lager sind errichtet; Claire und Su versuchen, Widerstand zu leisten. In den einzelnen Episoden des Romans erfassen die Figuren ihre ausweglose Situation, begreifen, bewerten, verändern, fangen an zu kämpfen. Und manchmal sind die Traumsuaden realer als die Wirklichkeit. Ein Plädoyer gegen Hoffnungs­losigkeit.

Eva Schörkhuber: "Nachricht an den großen Bären", Edition Atelier, 200 S., 20 €

Über das Vermissen
Jens Rassmus' einfühlsame Zeichnungen bringen die schwankenden Stimmungen der zehnjährigen Jette zum Ausdruck: Ihr jüngerer Bruder ist gestorben, sie ist mit Gedanken randvoll angefüllt. Dramaturg Jens Raschke macht deutlich, wie gut es ist, dass es viele Fragen gibt, dass man sie stellt und zu beantworten traut. Ein tröstliches Buch.

Jens Raschke: "Schlafen Fische?", Mixtvision, 64 S., 17,90 €, ab 8

Lakonisch, wehmütig, tiefgründig
Ja doch: Lyrik! Und Ror Wolf mit einem großen Fundus an stoizistischen Figuren, den permanenten Variationen und schwarzhumorigen Feingeisterfahrten, dem Nicht-lassen-wollen bei der Suche nach Wahrheit(en). Die Lesererkenntnisse bitte nur portionsweise löffeln.

Ror Wolf: "Die Gedichte", Schöffling & Co., 576 S., 25 €

Fräulein Elsas Gespür für Tugend
Die nachmittägliche Schwüle auf dem Anwesen der angesehenen brasilianischen Familie ist beim Lesen beinahe körperlich spürbar: Senhorita Elsa, das attraktive Fräulein aus Deutschland, kümmert sich nur vordergründig um die liebreizend-langweiligen kleinen Töchter des Hauses. Ihre eigentliche Mission ist ungleich delikater – sie soll den heranwachsenden jungen Herren diskret in die verschwiegene Welt der Erotik einweihen. Hinter der Fassade von Bürgertum und Tradition entsteht ein Sog aus Anziehung und Verletzung. Der 1927 erschienene Roman liegt jetzt erstmals auf Deutsch vor; unterhaltsam und flirrend, jenseits von Kitsch und falschem Pathos.

Mário de Andrade: "Senhorita Elsa. Die Schule der Liebe", Louisoder, 285 S., 22 €

Verluste erkennen
Rot, Blau, Schwarz: In diesen Farben entfaltet sich die Geschichte des kleinen Jungen, dessen beste Freundin fortgezogen ist. Jeden Tag zählt er seitdem, erinnert sich an ihre gemeinsamen Unternehmungen, leistet Herzschmerz-Arbeit, auch wenn sie ihm Päckchen schickt. Er ist treu, keine Frage. Und am Ende bereit für Neues: Ein Mädchen mit Katze zieht ins Nachbarhaus. Eine verständnisvoll-poetische Geschichte für Kinder, die bei Umzügen nicht gefragt werden.

Roald Kaldestad, Bjørn Rune Lie: "Für immer Freunde", Kleine Gestalten, 48 S., 14,90 €, ab 6

Gegen Fake-News
Die Jugend wird immer gewalttätiger, Ausländer nehmen Arbeitsplätze weg, die EU schikaniert mit sinnlosen Verboten usw.: Stereotype Vorurteile werden hier unter die Lupe genommen, zerlegt, es wird ihnen auf den Grund gegangen. Medien bedienen Vorurteile, häufig stammen erfundene »Tatsachen« aus sozialen Netzwerken – in Wirklichkeit hat dann eine Einheimische Kindergeld für 13 Kinder bekommen und nicht eine Rumänin, die es nie gegeben hat. Äußerst lesenswert das Kapitel, wie Vorurteile entstehen.

Nina Horaczek, Sebastian Wiese: "Gegen Vorurteile", Czernin, 192 S. , 17,90 €

Konkurrenzzwang und Idealismus
Dem wäre nichts hinzuzufügen: "Wie jeder Revolutionär war Wilde mit seiner weit über­legenen Intelligenz auch ein gönnerhafter Verführer, ein unternehmerischer Geist und ein brillanter Schelm", schreibt Anselm Lenz im Vorwort der herstellerisch sorgfältig gestalteten Ausgabe (über den Durchschuss ließe sich streiten). Die Schrift des sozialistischen Dandys über einen neuen Individualismus als Zustand vollkommener Harmonie passt bestens in die Nautilus-Reihe Utopien für Hand und Kopf.

Oscar Wilde: "Die Seele des Menschen im Sozialismus. Ein Essay", Nautilus, 112 S., 24 €