Vor dem zweiten harten Lockdown

Buchhandel trotzt der Krise

9. Dezember 2020
von Torsten Casimir

Was aus dem politischen Berlin (und aus der Wissenschaft) zu hören ist, lässt nur eine Erwartung zu: Der zweite Lockdown wird noch unerbittlicher. Der Buchhandel steht abermals vor einer Riesenaufgabe – und darf dennoch zuversichtlich bleiben. Ein Kommentar von Börsenblatt-Chefredakteur Torsten Casimir.

Torsten Casimir

Für einen harten Lockdown im Advent gibt es keine Routinen, auch dann nicht, wenn der letzte gerade erst neun Monate zurückliegt. Aber es gibt Erfahrungen, aus denen die Buchbranche für die entscheidenden Umsatztage des Jahres Mut schöpfen kann. Denn unter allen Sparten des Einzelhandels funktioniert in der nicht enden wollenden Corona-Plage der unabhängige Sortimentsbuchhandel bisher am besten – mit Abstand sogar, ließe sich hinzufügen, wenn das "mit Abstand" nicht inzwischen ein so langweiliger Kalauer wäre. Die Krisenfestigkeit der Branche hat mehrere Gründe.

Die Loyalität der Buchhandelskundschaft zu ihren lokalen Händlerinnen und Händlern ist unverbrüchlich. Oft über lange Zeiträume hinweg sind offenbar persönliche, vertrauensvolle Beziehungen gewachsen. Sie fußen auf erfreulichen Beratungserlebnissen (nichts bindet Kunden stärker als diese). Sie werden gestützt durch die Überallerreichbarkeit des unabhängigen Buchhandels: Geschäft im Viertel, Shop im Web. Und die Ware, um die es geht, das Buch, bewährt sich gerade als das ideale Rückzugsmedium. Studien belegen bereits, dass in diesem Jahr wieder mehr gelesen wird, über alle Altersgruppen hinweg. Das Leitmedium feiert sein Comeback – diesmal als Lockdown-Medium.

Aber stopp: Reden wir uns gerade die Lage schön? Oder sprechen die empirischen Fakten des Marktes ebenfalls für eine optimistische Sicht?

Zahlen, die die Marktforscher von Media Control gerade zur Kalenderwoche 49 veröffentlicht haben, belegen überdeutlich, wie exzellent sich das Sortiment in der Pandemie schlägt. Der Vergleich zum Vorjahreszeitraum: 5,5 Prozent Umsatzplus, kumuliert für den Advent (also inkl. KW 48) sogar plus 8,4 Prozent; dazu 6,7 Prozent höhere Preise; sogar die Mengenentwicklung tendiert in der bisherigen Adventszeit leicht positiv. Schaut man allein auf die Ergebnisse der Kalenderwoche 48, so lässt sich zudem ein hervorragend verlaufener November vermuten – am morgigen Donnerstag stehen im Börsenblatt dazu die Messergebnisse aus Baden-Baden.

Die Indizien sprechen für ein verdichtetes, vorgezogenes, aber auch intensives Weihnachtsgeschäft. In den kommenden, wenigen Tagen dürfte noch viel zu holen sein. Natürlich sind enorme Anstrengungen vonnöten, um alle Kundenwünsche unter den aktuellen Bedingungen zu befriedigen. Aber die Wünsche wie auch die Kunden, sie sind da! Sie sind präsent wie lange nicht mehr.

Es gibt auch Dankbarkeit und Toleranz für einen Logistik, die längst am Limit liefert.

Historische Bestellvolumina

Der Buchlogistik stellt die Pandemie mit ihren Folgen für das Einkaufsverhalten eine Herkulesaufgabe. Historische Bestellvolumina werden bewegt. Der hohe Anteil an Online-Ordern begünstigt dabei leider die Kleinteiligkeit der Sendungen. Oft schicken Barsortimente direkt an die Privatadresse des Buchhandelskunden. Das bedeutet erhöhten Aufwand, bindet Kapazität und macht das System anfälliger für Fehler. Aushilfskräfte, die die Misere lindern würden, lassen sich kaum so schnell rekrutieren, wie sie benötigt würden. Überdies setzt das stark eingeschränkte öffentliche Leben in den Städten ein für die Normalität ausgelegtes Touren-Konzept der Barsortimente unter Rentabilitätsdruck. Über-Nacht-Lieferungen sind selbst im laufenden Weihnachtsgeschäft nicht in jedem Fall sinnvoll.

Die Partnerschaft zwischen Logistik und Handel wird gerade auf eine harte Probe gestellt. Es gibt Reaktionen aus dem Buchhandel, die für Fehllieferungen und Verspätungen wenig Verständnis zeigen. Es gibt aber auch Dankbarkeit und Toleranz für eine Logistik, die längst am Limit liefert. Buchhändlerinnen und Buchhändler werden nicht umhinkommen, unter einer solch massiven Überlast bei ihren Kund*innen (auf Beraterdeutsch gesagt) "kluges Erwartungsmanagement" zu betreiben. Nicht jedes bestellte Buch wird über Nacht kommen können. Wer würde das in diesen Tagen nicht verstehen!

Klar, es gibt aktuell einiges zu reklamieren und zu bemängeln, es gibt Gründe, den Kopf zu schütteln und sauer zu sein. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hatte vermutlich nicht an das angespannte Verhältnis zwischen Barsortimenten und Buchhandel gedacht, als er schon früh im Jahr den für politische Maßstäbe ziemlich starken Satz formulierte: "Wir werden in der Corona-Krise einander viel verzeihen müssen." Stimmt. Stimmt auch für die Buchbranche. Aber deren Elan scheint derzeit viel größer als ihr Ärger über schwächelnde Prozesse.

Im Doppel-Lockdown-Jahr 2020 schlägt die Stunde der Vielfalt und der kleinteiligen Strukturen des Sortimentsbuchhandels. Gäbe es gerade nur in den 1-a-Lagen und auf den großen Plattformen Kontaktstellen zum Buch, würden die Verlage durchs Ofenrohr in die Karpaten schauen. Indes, alle haben Glück. Diversität ist nicht bloß eine kulturelle Norm (schon als solche wäre sie schützenswert), sie erweist sich jetzt als wirtschaftlicher Trumpf in der Krise. An dieser Stelle gäbe es nun einiges zur Buchpreisbindung anzumerken, dem eigentlichen Immunschutz der Branche, aber das wäre eine andere und noch viel längere Geschichte…