Alfred-Kerr-Preis 2004

Dickfelligkeit ist nötig

8. April 2004
von Börsenblatt

Elmar Krekeler, der 2004 mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik ausgezeichnet wird,  stellt einen Tugendkatalog  für Literaturkritiker auf. Dankesrede anlässlich der Preisverleihung.

Gewollt habe ich das allerdings nicht. Aber wer will das schon. Man will Feuerwehrmann werden oder Rennfahrer, meine Tochter wird Detektiv. Kaum jemand aber kommt auf die Welt mit dem festen Vorsatz, Kritiker zu werden. Trotzdem wird die (eigentlich traurige) Zahl derer, die sich als Kritiker in Zeitungen und Rundfunkanstalten verdingen wollen, nicht geringer, im Gegenteil. Was aber sind denn nun die – von den literarischen Grundrechenarten wie ein Buch von einer Videokassette unter- scheiden zu können, lesen und schreiben einmal abgesehen – Einstellungskriterien für Literaturkritiker? Zur Abschreckung vielleicht ein zugegeben unvollständiger Katalog in alphabetischer Reihenfolge.

Alzheimer. Ein unabdingbares Kriterium. Ohne eine zumindest partielle Demenz geht nämlich leider gar nichts. Wer nicht relativ schnell vergessen kann, was er eben geschrieben, eben gelesen hat, geht verloren im Betrieb. Das klingt jetzt perverser, als es eigentlich ist. Wer nämlich den Kopf, das Herz demnächst nicht freiräumt von den jetzt gerade anflutenden Büchern des Frühjahrs, kann die bevorstehende Welle der Herbsttitel gar nicht aufnehmen. Wobei es sich bei der Kritikerdemenz allerdings um etwas handelt, das es im wahren Leben nicht gibt, um eine leichte Form von Alzheimer nämlich. Die voll- ständige Demenz, die bloß das Neue feiert, wäre genauso tödlich für die Literatur wie das vollständige Fehlen der Fähigkeit des Vergessens. Traditionslinien, herausragende Werke lassen sich im Dschungel der Bücher eben nur dann erkennen und erinnern, wenn man die mnemotechnische Machete ansetzt und Nebenpfade, Seitenwerke, Überflüssiges schlicht vergisst.

Bildung. Auch ein essenzielles Kriterium, wenn auch ein oft Überschätztes. Womit wir leider wieder auf die Demenz zurück- kommen müssten. Bildung schadet beim Lesen und beim Denken relativ selten, beim Schreiben allerdings doch ziemlich häufig. Unzählige Rezensionen sind schon über jene Zettelkästen gestolpert, die ihre Autoren glaubten zum Schreiben ihres Textes öffnen zu müssen. Man darf, man muss sie schon benutzen, diese Zettelkäs- ten. Hinterher aber sollte niemand mehr merken, dass man sie verwendet hat. Der Leser ist über Bildungshuberei mindestens genauso verstimmt wie der Schriftsteller verständlicherweise über Bildungsdefizite.

Demut. Ein gern vergessenes Kriterium. Und noch ein Beispiel für die Selbstverleugnung, die einem Kritiker abverlangt wird. Denn Literaturkritik ist ein dienendes Gewerbe. Literaturkritiker sind Diener vieler Herren; der Gegen- wart und dem Alltag, der Literatur und dem Leser sind sie gleicher- maßen verpflichtet. Kritiker sind nicht mehr, aber auch nicht weniger als Vermittler, manchmal Makler der Literatur. Sie machen keine Literatur, in der Regel machen sie noch nicht einmal Literaturgeschichte. Sie sollen, sie wollen nicht mehr und nicht weniger als, um Marcel Reich-Ranicki zu zitieren, Literatur ermöglichen.

Fantasie. Ohne Fantasie, ohne Fabulierungslust, würde jede Kritik veröden. Fände vollkommen zu Recht keine Leser und würde somit überflüssig. Denn es geht beim Schreiben über Bücher, darin zumindest gleicht der Kritiker dem Schriftsteller dann doch, da- rum, eine Geschichte zu erzählen, einen Leser zu fesseln, zu überzeugen. Erforderlich ist dabei allerdings nicht mehr nur eine schreiberische, sondern auch eine formale Fantasie. Es gibt nämlich entgegen anders lautenden Angaben keine guten oder schlechten journalistischen Formen, es gibt nur deren gute oder schlechte Umsetzung. Die so genannte klassische Rezension ist nicht immer der Königsweg. Literatur lässt sich hervorragend auch mit der viel geschmähten Home-Story, der viel geschmähten (und nicht zuletzt von Jorge Luis Borges zur Perfektion gebrachten) Kurzrezension ermöglichen, wenn diese Formate und ihre Umsetzung dem Gegenstand angemessen sind und ein kritisches Standardniveau nicht unterschreiten.

Idealismus. Man sollte nicht davon ausgehen, dass man mit Abhandlungen über Literatur die Welt grundsätzlich verbessern kann. Wahrscheinlich noch nicht einmal die literarische Welt. Den- noch ist Literaturjournalismus – auch noch im postutopischen, postideologischen Zeitalter – gesellschaftliche Arbeit. Sie backt nur kleinere Brötchen. Hat neben den klassischen Aufgaben Sichten und Einordnen und einigen anderen eine zentrale, die man nicht klein reden sollte. Es droht nämlich, das zeigen auch die gerade veröffentlichten Studien über die Leselust von Jugendlichen wieder, die Gesellschaft als leserbefreite Zone. Und so sollte besser Finanzbeamter werden, wer als Kritiker von vornherein davon ausgeht, dass er sowieso bloß die berühmten gut zehn Prozent der Bevölkerung erreichen kann, von denen es heißt, dass sie für Literatur ansprechbar seien. Wer die Hoffnung aufgegeben hat, dass er durch das, was er tut und wie er es tut, diese Quote steigern kann, ist im Literaturjournalismus schon ein bisschen fehl am Platz.

Künstlertum. Ein sehr vernachlässigbares Kriterium. Am besten gleich vergessen. Literaturjournalisten sind Handwerker; wenn sie gut sind, sind sie Kunsthandwerker. Die Literaturkritik, das sei hier zum Einordnen noch einmal herausgestellt, ist keine Kunst. Sie ist ein dienendes Gewerbe. Gut komponiert, gut geschrieben (vergleiche Kategorie Fantasie) sollten ihre Texte dennoch sein. Denn schließlich kann, wer schlecht schreibt, schlechterdings niemanden des Schlechtschreibens an- klagen.

Leidenschaft. Das Wichtigste überhaupt. Nichts wäre tödlicher fürs Feuilleton (wie wahrscheinlich für jede Form des Journalismus und für jeden Beruf) als eine Diktatur der Fleisch gewordenen Büroklammern, der Buchhalter, der Erbsenzähler. Man kann in vielem nachlassen, müde werden. In der Leidenschaft nicht. Auf die Gefahr hin, enttäuscht zu wer- den, müssen sich Literaturkritiker leider dann doch sisyphusgleich jedes Mal wieder in eine Ge- schichte werfen. Den Gegenstand ihrer Berufsausübung bis aufs Blut verteidigen, auch dann noch, wenn er sich zum 20. Mal als nicht sonderlich verteidigenswert herausgestellt hat.

Masochismus. Man muss nicht nur leidenschaftlich, sondern auf leidensfähig sein. Es ist wahrlich ein Schlachtfeld, auf das sich der Kritiker begibt. An Beleidigungen zum Beispiel, denen man von Lesern, Schriftstellern und Kollegen gleichermaßen ausgesetzt ist, herrscht nun wirklich kein Mangel. Als da wären: Literaturluder, Hyäne der Kunst, Hinterherläufer, halbwahnsinniger Pathologe, Narr, Spinner, Ritter der Rentabilität. Das darf - einen nicht anfechten. Genauso wenig wie die Tatsache, dass man in Redaktionen stets im Paradies- vogelverdacht steht. Am besten, man legt sich ein dickes Fell zu. Wenigstens nach außen hin und gegenüber Kollegen. Nach innen hingegen muss man verletzlich bleiben, das Visier offen halten, bewegbar von Geschichten, fröhlich bereit, sich von ihnen, von ihrer Wucht, ihrer emotionalen Bewegung, die Beine unter dem Herzen und dem Kopf wegschlagen zu lassen.

Mathematik. Ein zweischneidiges Kriterium. Man muss nämlich gleichzeitig gut und schlecht rechnen können. Gut rechnen können muss man, um in den Redaktionen die ständig schrumpfen- den Etats wenigstens einigermaßen einzuhalten, die einem von den eigentlichen Herren des Feuilletons, den Verlagsgeschäftsführern nämlich, zur Verfügung gestellt werden. Schlecht rechnen muss man, weil sich Literaturkritik rein ökonomisch gesehen überhaupt nicht rentiert. Würde man nämlich tatsächlich nachrechnen, in welchem Verhältnis Lese- und Schreibzeit zum dafür am Ende gezahlten Salär wirklich stehen, ergäbe sich ein kaum unterschreitbarer Stundenlohn. Lesen, wenn man es ernst nimmt, ist eine ziemlich langsame Tätigkeit. Für Langsamkeit ist aber im journalistischen Alltag nun wirklich kein Platz mehr. Womit wir bei einer essenziellen Voraussetzung für fest angestellte Kritiker wären.

Nervenstärke. Die Bedingungen, unter denen Rezensionen gerade in Redaktionen entstehen, haben mit der romantischen Vorstellung vom im Kaffeehaus vor sich hin schmökernden und Formulierungen ausbrütenden Rezensenten nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun. Die goldenen Zeiten des Journalismus, wenn es sie denn jemals gegeben hat, sind vorbei. Die Zahl der formalen, technischen Aufgaben, die Redakteuren, und um die geht es hier vor allem, zunehmend zusätzlich zu ihren ehemalig zentralen Tätigkeiten wie Bleigewichte an die Beine gebunden werden, nehmen zu. Der fest angestellte Kritiker ist notgedrungen zur eierlegenden Wollmilchsau mutiert. Und der Druck, dem er sich ausgesetzt sieht, vom Markt, von Kollegen, von konkurrierenden Medien, wird größer. Ein Beispiel: Es wird im metajournalistischen Wettlauf zunehmend schwerer vermittelbar, dass nicht jedes Buch, dass Kollege S im Medium F schon umfangreich gefeiert hat, für die eigene Zeitung gestorben ist. Zu argumentieren, dass Schnelligkeit zwar ein hohes Ziel ist, aber keine Voraussetzung und schon gar kein Ausschlusskriterium und dass man nicht dem Kollegen S, sondern dem eigenen Leser und der eigenen Informationspflicht verantwortlich sein muss, wird auch immer schwerer. Das dicke Fell, auch hier wird es gebraucht. Und es wird nicht besser werden mit den Produktionsbedingungen für Literaturkritik. Es kommen härtere Tage.

Zeitgenossenschaft. Schwer einzuhalten, aber nötig. Journalismus per se ist ein ziemlich asozialer Beruf. Er ist leicht in der Lage, die, die ihn ausüben, massiv von ihrer Umwelt zu entfremden. Wer sich jedoch ein Buch vor den Kopf hält und sich der Welt verweigert, den Nachrichten, dem Kino, dem Theater, dem Fernsehen, wer sich allem, was mit Popkultur und Politik zusammenhängt, verweigert, wird noch sehr viel stärker als in der Vergangenheit nicht in der Lage sein, beurteilen zu können, was er zu beurteilen hat. Und sollte Finanzbeamter werden. Aber das hatten wir ja schon.

 

Woran also könnte man einen Literaturkritiker auf der Messe erkennen? Einen etwas dümmlich lächelnden, irgendwie kurzsichtig und übernächtigt wirkenden, mittelalten Menschen müssten wir uns vorstellen, der sich irren Blicks leicht hinkend fortbewegt, eine ramponierte Rüstung ohne Visier trägt und statt eines Speers einen Sack Bücher unterm Arm und dem von seinem dicken Fell das Haar aus der Hemdbrust hängt. Schauen Sie sich um! Sie finden niemanden, der so aussieht? Sie sind aber garantiert da, die Kritiker. Sie sind mitten unter uns. Sie haben sich bloß getarnt. Wenn Sie einen entdeckt haben, seien Sie nett zu ihm. Er wird noch gebraucht.