Alfred-Kerr-Preis 2007

Hubert Winkels: »Wir sind alle Verkäufer«

20. Februar 2007
von Holger Heimann

Für den Literaturkritiker Hubert Winkels hat sein Gewerbe auch etwas von Schaustellertum. Allzu schrille Töne meidet der designierte Alfred-Kerr-Preisträger 2007 trotzdem. 

»Warum heißt der Alfred-Kerr-Preis eigentlich nicht Alfred-Polgar-Preis?«, fragte einer Ihrer Vorgänger, Hubert Spiegel, in seiner Dankesrede 2005. Eine Frage, die Sie sich auch stellen?
Winkels: Vor einigen Monaten habe ich beide in einem Anfall von Selbstvergewisserung als Kritiker noch mal gelesen. Ich war von Kerr schwer beeindruckt, von seiner pointensicheren Direktheit. Grandios, wie er alles mit allem in einer schlagenden Wendung in Beziehung setzen, etwas mit einem Satz vernichten oder glorios bejahen konnte. Zugleich schüchtert dieser Typus in seiner Massivität ein. Das ist nicht mein Fall. Ich hoffe, mit dieser Art der artistischen Überwältigung nichts gemein zu haben. Das Lesen von Polgars Texten war dann wie eine Erlösung. Alles wurde sanfter, bedächtiger, zurückgenommener, feiner, stiller ...

Sie selbst präferieren ja auch eher das leisere, abgewogene Urteil ...
Winkels: In der Tendenz schon. Man kann und sollte das Laute nicht immer vermeiden. Unser Gewerbe hat auch etwas vom Schaustellertum. Zu vornehm, zurückhaltend zu sein, heißt dann im Zweifel, gar nicht mehr bemerkt zu werden.

Nimmt die Lautstärke zu, um so ein größeres Publikum zu erreichen?
Winkels: Das ist sicher grundsätzlich so. Wobei es zwischen unterschiedlichen Medien zu unterscheiden gilt. Ich muss in der »Zeit« oder in der »FAZ« nicht so auftrumpfen wie im Fernsehen oder in einem farbigen Magazin in Konkurrenz zur Idolatrie von Popstars. Es gibt noch einen Raum, in dem Literatur verhandelt wird, in dem das Schrille nicht zwingend ist. Ich unterstelle einfach, dass es ein Publikum gibt, das für die anderen Töne ein Gehör hat.

Wird dieser Raum kleiner?

Winkels: Das ist meine zentrale Befürchtung. Wobei es ja leicht ist, sich eine kultur- und gesellschaftskritische Haltung anzuerziehen und sich zu einer erhabenen Minderheit zu zählen. In diese Falle darf man auch nicht tappen. Dennoch glaube ich, dass wir uns immer weiter von der bedächtigeren, genaueren Betrachtung der Dinge entfernen und dass die kunstvoll-distanzierte Form heute auch von weniger Lesern goutiert wird. Es gibt also auch bei den Kernorganen der Kritik eine gewisse Nachlässigkeit oder, positiv betrachtet, ein plakativeres Arbeiten. Man kann das als Modernisierungsgewinn und Lesernähe feiern, aber es geht auch etwas verloren.

Wie erklären Sie sich die Entwicklung?
Winkels: Literatur wird eine Kunst- und Unterhaltungsform unter anderen. Dem Schriftsteller winkt nicht mehr die Stelle der großen General-autorität in moralischen und ästhetischen Belangen. Und die Kritik kommt natürlich auch nicht in diesen Rang. Gegenläufig hat die Werbeindustrie – im umfassenden Sinne verstanden – einen unglaublichen Aufschwung genommen. Die Produktion anderer um einen herum ist massiver, bunter, manchmal vielleicht besser als die eigene geworden. Insofern muss man eine Anpassungsleistung vollziehen. Aber wie soll das auf die Literaturkritik bezogen aussehen? Hier ist nicht viel neu zu erfinden. Formen wie »Lesen!« von Elke Heidenreich halte ich für eine Überanpassung an andere Medien.

Ist diese Anpassung zu lange aufgeschoben worden?
Winkels: Ja, da ist schon einiges verschlafen worden, auch in der Literatur selbst. Es ist wichtig, sich zu öffnen für all die prägenden Figuren und Denkmotive der zeitgenössischen Wirklichkeit. Man kann nicht so tun, als lebte man in einem Raum alleine mit Helmut Heißenbüttel und James Joyce.

Wie stark sollte der Kritiker denn nun einem Publikumsbedürfnis nach Zuspitzung und Vereinfachung entgegenkommen?
Winkels: Die Frage muss man bei jedem Text neu beantworten. Ich rezensiere seit 25 Jahren, das heißt, ich bin durchaus mit den eigenen Vorlieben, Möglichkeiten, aber auch den eigenen Grenzen bekannt. Ich kann nicht mehr mit der Einbildung leben, eigentlich auch ganz anders zu können. Die Frage, welche Mittel ich einsetze, um den Leser zu erreichen, ist sicher wichtig, aber nicht entscheidend. Warum beschäftige ich mich mit Literatur, warum gebe ich die Hälfte, dreiviertel meiner Lebenszeit der Literatur hin? – Das ist für mich die ungleich wichtigere Frage. Die Antwort kann ich nur andeuten: Es gibt eine ununterbrochene Produk­tion von imaginären Räumen, in die wir eingebunden sind, in denen wir uns selbst beruhigen, geschlossene Bild- und Denkräume, wenn auch keine Ideologien mehr im klassischen Sinn. Literatur greift dieses permanent erzeugte Einverständnis auf und zersetzt es. Dieses Zerstören ist ein Akt der Erkenntnis. Das ist die eigentliche Qua­lität. Daraus entstehen natürlich andere Angebote zur Selbstdeutung.

Lässt sich der Wert von Literaturkritik auch daran messen, wie erfolgreich sie diese literarische Qualität vermittelt?

Winkels: Ich würde nicht so weit gehen wie Kerr und die Literaturkritik als literarische Gattung sui generis bezeichnen, aber sie partizipiert am Geheimnis der Literatur – ähnlich wie ein Prediger an der Botschaft des Evangeliums. Insofern arbeiten Autoren, Kritiker und auch Leser im selben Raum. Sich mit dem Empfänger zu verknüpfen, ist sicher gut, das muss man nicht betonen, das machen alle mit Verve, die Bücher verkaufen wollen. Und auf eine Art sind wir alle Verkäufer. Für den Kritiker aber ist es vor allem unerlässlich, sich leidenschaftlich mit dem Text zu verbinden.

Ärgert Sie der größere Erfolg der lauteren Verkäufer?
Winkels: Ich wäre ja weltfremd, wenn ich die Wirbler und Lautsprecher nicht schätzte, wenn sie doch grundsätzlich Aufmerksamkeit für die eigene Sache, die Literatur erzeugen. Aber es gibt auch eine Kehrseite: Man hat es schwer im Umfeld von jemandem, der mit einer Pappnase im Gesicht verzückt aufschreit oder Ohrfeigen verteilt. Sie sehen mir das Bild nach – im Rheinland ist Karneval.

Sie haben als Schriftsteller begonnen, sind dann aber Kritiker geworden. Ist es mehr als die zweite Wahl für Sie?
Winkels: Ich habe nie gedacht, dass ich den falschen Beruf habe. Das hat sich wie selbstverständlich ergeben. Gleichwohl muss ich sagen, dass ich die Attitüde nicht mag, die manche Schriftsteller kultivieren – nämlich von oben herab auf die Kritik zu schauen.

Der Kritiker Reinhard Baumgart, der wie Sie als Romanautor begonnen hat, war am Ende seines Lebens mit dem Gedanken beschäftigt, ob ihm zum Schriftstellerdasein eine gewisse Unbedingtheit gefehlt habe. Was meinen Sie in Ihrem Fall?
Winkels: Das ist eine schwierige Frage. Einer meiner Säulenheiligen war lange Zeit Derrida. Der ist für mich solch ein existenzieller Allesgeber wie nur irgendein Schriftsteller. Er ist aber auch Philosoph und Textausleger. Es gibt ein weites Feld, in dem das ineinander übergeht.Und mir liegt gerade daran, die Durchlässigkeit aufrechtzuerhalten. Baumgart war übrigens eine Art role model für mich. Ich bin ihm einige Male begegnet, er war mir gar nicht so supersympathisch, aber er hatte eine gewisse Souveränität und Würde, ein ungezwungenes Selbstbewusstsein im Umgang mit anderen und mit Literatur. Das hat mir imponiert. Und ich dachte damals: »Ha, so kann man also auch leben als freier Kritiker und gar nicht so schlecht.« Erst Jahre später habe ich begriffen, dass er eine steinreiche Reederstochter geheiratet hatte. Da brach, was den Habitus, die soziale Statur betrifft, mein role model natürlich zusammen.

Sollte ein guter Kritiker ein Romanmanuskript mindestens in der Schublade haben?
Winkels: Es ist sicher von Vorteil, wenn ein Kritiker die Mühen und Enttäuschungen, aber auch die euphorischen Aufschwünge, die mit dem Schreiben schöner Literatur verbunden sind, selbst erfahren hat – statt immer nur in der Position des Besserwissers gewesen zu sein. Doch ich würde denen, die sich nicht daran versucht haben, keinen Mangel attestieren, aber vielen unterstellen, dass auch sie ein Manuskript in der Schublade haben – oder zumindest einen ungeschriebenen Roman im Kopf. Den ihres Lebens vielleicht?