Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik

Mehr als Lob und Tadel

12. Juni 2003
von Börsenblatt

Ungeliebt zu sein: Das gehört zum Berufsrisiko eines Rezensenten. Felicitas von Lovenberg, ausgezeichnet mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik 2003, über die Rolle ihrer Zunft. Überarbeitete Fassung der Dankesrede anlässlich der Preisverleihung in Karlsruhe.

Er für seinen Teil fände, es handle sich um »ein bewundernswürdiges und sehr anrührendes Werk«, sagte James Fenton, seines Zeichens Dichter, Literaturkritiker und Oxforder Poesie-Professor in Personalunion. »Und«, so fuhr er fort, »es trifft genau den richtigen Ton für den Anlass.« Auch Andrew Motion zeigte sich nach der Lektüre äußerst angetan. Es sei sehr aufmunternd, zu erfahren, dass die Verfasserin so einen ausgeprägten Sinn für Sprachrhythmus habe, bemerkte der amtierende englische Hofdichter. »Es ist geistreich und komisch«, gab sein Kollege Roger McGough zu Protokoll. Und auch der Dichter U. A. Fanthorpe lobte den Text als »ausgezeichnetes Beispiel für einen rundum gelungenen Gelegenheitsvers«.

Der Lyriker Al Alvarez schließlich konnte nicht umhin, seine Überraschung über die Identität des Urhebers zu äußern, und fügte hinzu: »Es zeigt eine nette Seite, die wir an der Autorin bisher nie bemerkt hatten, denn wenn sie in der Öffentlichkeit erscheint, hat sie immer etwas Missbilligendes an sich.«

Es würde zu weit führen, das ganze Gedicht, das die führenden Poeten Englands vor wenigen Tagen in solch ekstatischen Tönen bejubelten, hier zu zitieren; eine Kostprobe mag genügen: »We shall never forget, / Nor could ever repay, / A meal of such splendour, / Repast of such zest / It will take us to Sunday / Just to digest«, was frei übersetzt bedeutet:

»Nie werden wir’s vergessen / und können’s doch nicht erwidern / Ein Essen von solcher Pracht / eine Mahlzeit von solcher Macht / Allein des Ganzen Verdauung / schenkt uns bis Sonntag Erbauung.«

Die Berufsdichter, die diese Verse so begeistert aufnahmen, mag längst nicht jeder kennen; die Verfasserin der Zeilen jedoch allemal.

Die englische Königin schrieb sie vor einigen Jahren ins Gästebuch ihrer Mutter. Jetzt ist die Angelegenheit her- ausgekommen, und siehe da – eine effektivere Werbung hat das Haus Windsor schon lange nicht mehr erlebt.

Kaum kräht das gekrönte Haupt, verneigen sich die Dichter des Königreichs und komplimentieren das außergewöhnliche Sprachgefühl. Wenn sich mit so wenig Auf- wand solche Lobhudelei erreichen lässt, fragt man sich, wie oft dies wohl auch auf andere kommentierte Werke zutrifft – ein klarer Fall von Prominenz durch Assoziation. »Getretener Quark wird breit nicht stark«, sagte Goethe in solchen Fällen. Und nebenbei belegt die Episode aufs Schönste, warum man Dichtern und Kritikern nicht immer trauen kann.

In einer Zeit, da Popstars, Fußballer und Musikproduzenten ihr Lesepublikum bereits gefunden haben, bevor sie überhaupt eine einzige Zeile zu Papier brachten, gönnt man Elisabeth II. die

Schmeicheleien von Herzen. Denn glücklicherweise haben wir noch von keinem ernst zu nehmenden Rezensenten den Rat bekommen, die Lebensweisheiten eines Mittelfeldspielers zu lesen. Dass es dennoch tausende von Menschen tun, beweist, dass es mit dem angeblichen Einfluss der Literaturkritik nicht sehr weit her sein kann.

Zu viel Höflichkeit gilt als Urteilsschwäche

Bevor wir jedoch zu den Einschränkungen kommen – das Lieblingswort des Journalisten lautet bekanntlich »aber« –, ist festzustellen, dass der Beruf des Kritikers der wunderbarste der Welt ist – darf er sich doch den schönen Künsten widmen, ohne dass er selbst darin versiert sein muss. Er darf nach Herzenslust lesen, zuhören, betrachten, um nachher seine Meinung kundzutun. Diese Meinung sollte manch- mal boshaft sein, festigt doch dies den Ruf des Kritikers, anstatt ihn zu schmälern. Zu viel Höflichkeit gilt als Urteilsschwäche.

Risiko und zugleich Chance dieser extrovertierten Tätigkeit sind offensichtlich: Der Kritiker gibt sich nolens volens stets selber preis. Ein aufmerksamer Leser lernt ihn mit den Jahren besser kennen als die meisten seiner Freunde. Dieses Vertrauen gehört zum schönsten Lohn des Berufs.

Weit verbreitet und durch nichts zu erschüttern ist die Meinung, Kritik sei in erster Linie ein Machtinstrument. Doch praktisch spricht alles dagegen.

Für mich jedenfalls hat Literaturkritik rein gar nichts mit Macht zu tun. Das entlastet, kann aber auch bedrücken. Es entlastet in- sofern, als dass es fast gleichgültig ist, ob man ein Werk rühmt oder verreißt: Eine einzelne begeisterte Rezension hat in der Regel wenig Verkaufseffekt. In solchen Fällen ist bedrückend, dass man nicht die Macht hat, jene Bücher, die man liebt, möglichst vielen Menschen nahe zu bringen.

Wenn man einen Schriftsteller bewundert, will man hinter sein Geheimnis kommen. Aber es zu lüften, ist nicht das Allerwichtigste. Und es wäre furchtbar, wenn der Kritiker sich anmaßen würde, das einzig wichtige unter vielen Rätseln enttarnen zu können. Es gehört zur Selbstkritik des Kritikers, sich immer daran zu erinnern, dass viele Schriftsteller sich in den Rezensionen ihrer Bücher nicht verstanden fühlen. Der Kritiker hat letztlich keine Offenbarungen anzubieten. Doch je mehr er gelesen hat, umso besser für sei- ne Rezensionen. Denn die Bibliothek im Kopf ist sein Instrumentarium, seine Ressource, bisweilen seine »Zauberhöhle«, wie Borges es einmal nannte.

Dieser Fundus hilft ihm, Einschätzungen vorzunehmen, Vergleiche zu ziehen, Urteile zu begründen. Seine Leseerfahrung macht ihn souverän, aber hoffentlich auch bescheiden. Ein guter Kritiker ist zuverlässig und macht nicht viel Aufhebens von sich. Mit seiner angedichteten Macht über das Schicksal der Bücher sitzt er zwischen allen Stühlen – ein unbequemer, aber keinesfalls schlechter Ort. Was sich allerdings verbietet, sind Gefälligkeitsbesprechungen, mit denen der Kritiker sich selbst und seine Arbeit nur herabsetzt.

Die Ware Buch ist uns allen so vertraut, dass oft in Vergessenheit gerät, welche Anstrengung und welcher Mut sich hinter jedem Werk verbergen. Die Anerkennung dieser Leistung muss Grundlage jeder Kritik sein. Natürlich verdient nicht jedes Buch die Mühe einer Rezension. Bewegt aber einmal ein Buch, möchte man das Glücksgefühl der Lektüre weiter- geben und mit dem Publikum teilen. Insofern gibt es nichts Schöneres, als einen Titel, der einem am Herzen liegt, auf der Bestsellerliste wiederzusehen. Und wahrscheinlich ist der Kritiker, der noch Begeisterung zu wecken vermag, heute nötiger denn je.

Denn wo die Auflage von Spitzentiteln sich früher im Hunderttausender-Bereich bewegte, genügen in unserer leseschwachen Gegenwart für ein Buch oftmals schon einige zehntausend verkaufte Exemplare, um sich auf den Bestsellerlisten zu behaupten. Leider, und auch damit muss der Kritiker leben, sind banale Romane heute oft besonders erfolgreich. Das Verschwinden der Leser verschont eben auch den Rezensenten nicht; manchmal beschleicht ihn das Gefühl, dass Kritik immer öfter unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet. Nun waren die meisten großen Lehrer der Menschheit keine Schreiber, sondern Redner. Das sind sie auch heute wieder: Die größte Wirkungsmacht steckt in unserem Kulturleben hinter einer Scheibe, nämlich dem Fernsehen, wie das »Literarische Quartett« und neuerdings auch Elke Heidenreichs abendliche Conference schlagend belegen. Das ist kein Grund zur Mutlosigkeit: Gerade der junge Kritiker muss versuchen, unverdrossen und auch selbstbewusst dagegen anzuschreiben.

Nun habe ich diesen wunderbaren Preis erhalten. Seitdem fühle ich mich, wie sich auch die Queen beim Lesen ihrer Rezensionen gefühlt haben mag, geschmeichelt, aber auch als Hochstaplerin wider Willen. Ein Rezensent glänzt nur dann, wenn er Gold beschreibt; sonst wenden wir uns eher wieder Goethe zu. Insofern betrachte ich diese Auszeichnung, Sie werden es mir nachsehen, in erster Linie als Kompliment, das ich an die Autoren weiterreiche, über die ich bisher öffentlich nachdenken durfte. Die Aufgabe der Kritik kann natürlich nicht nur Lob sein, auch nicht nur Tadel, sondern ist immer und zuvörderst Information und Einordnung. Zum Berufsrisiko des Rezensenten gehört es deshalb, unbeliebt zu sein. Er wird nur selten gehätschelt, ähnlich wie die Queen. Auch hier, man möge mir die Hybris nachsehen, kann die Parallele zur englischen Königin gezogen werden, denn auffallen tut auch ein Kritiker nur, wenn er seinen Job besonders gut oder besonders schlecht versieht.

Allerdings, womit wir nun immer noch bei der Queen wären, wagt niemand, dem Kritiker mal so richtig die Meinung zu sagen, weil es sich schließlich keiner mit ihm verderben will. Aber genau wie Elisabeth II. und genau wie jeder Dichter und Schriftsteller will auch der Kritiker geliebt werden, jeden- falls ein bisschen. Und diese Liebe kann sich nur darin zeigen, dass seine Rezensionen gelesen werden und dass seine Leser mit den Jahren seinem Urteil vertrauen.