Woche der Meinungsfreiheit

Streiten in disruptiven Zeiten

5. Mai 2025
Jona Piatkowski

"Wie begegnet man so einer Emotionalität?" – Iris Berben, Alena Buyx und Michel Friedman diskutierten zur Eröffnung der Woche der Meinungsfreiheit über Streitkultur.

Moderatorin Julia Westlake, Iris Berben, Alena Buyx und Michel Friedman (von links)

"Wir dürfen uns nicht wehrlos und sprachlos machen lassen" – Iris Berbens Stimme hallt langsam und nachdrücklich in der Stille. Mit diesem Zitat der Friedenspreisträgerin Carolin Emcke eröffnet sie am 3. Mai die Woche der Meinungsfreiheit in der Frankfurter Paulskirche. Die Fenster färben sich düstergrau. Draußen zieht es sich zu.

Iris Berben spricht auf der Empore der Frankfurter Paulskirche

Iris Berben

 

"Ein authentischer Ort, an welchem in der Nationalversammlung 1848 die Presse- und Meinungsfreiheit festgeschrieben und verkündet wurden", beschreibt Kai Michael Sprenger von der Stiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte in seinem Grußwort die historische Kirche. Sie sei ein würdiger Bezugsrahmen für einen Dialog zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit.

"Schließen Sie für einen Moment die Augen": Sprenger beschwört Johann Adam von Itzstein herauf, Redner des Hambacher Festes, Ausrichter des Hallgartenkreises und Abgeordneter der Nationalversammlung. Für einen Moment sitzen die Versammelten von 1848 und 2025 nebeneinander. "Passt auf, dass es euch nicht ergeht, wie uns, und ihr sie wieder verliert, die Grundrechte unserer Verfassung. Hütet diesen Schatz!"

Kai Michael Sprenger von der Stiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte am Rednerpult

Kai Michael Sprenger von der Stiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte

Wir erleben etwas, wovon wir ausgegangen sind, dass uns das nicht passieren kann.

Michel Friedman

100 Tage Trump, eine gesichert rechtsextreme AfD und der Abstieg Deutschlands auf Platz 11 der Weltrangliste der Pressefreiheit – das sind die Kontexte, in welche Börsenvereinshauptgeschäftsführer Peter Kraus vom Cleff den 3. Mai rückt: den Welttag der Pressefreiheit und die Eröffnung der Woche der Meinungsfreiheit.

Draußen beginnt es zu donnern. Und als die Dezernentin für Kultur und Wissenschaft der Stadt Frankfurt, Ina Hartwig, "Wir müssen die Komfortzone der Selbstbestätigung verlassen" sagt, setzt der Regen ein. Die Farbe der Fenster wird zu einem Ozeangrüngrau und der Wind lässt die Schauer in Schüben gegen das Glas prasseln. "Jetzt geht’s los", flüstert jemand.

Frankfurts Kulturdezernentin Ina Hartwig

Peter Kraus vom Cleff

Wie streiten?

"Wir erleben etwas, wovon wir ausgegangen sind, dass uns das nicht passieren kann", sagt Michel Friedman. Der Jurist und Publizist fordert auf, Streiten als Bildungsauftrag zu erkennen: "Es ist ein Versäumnis der Demokratie, dass die Lust am Streiten nicht im Curriculum von Schulen steht." In der Diskussionsrunde sind neben Friedman Berben, Alena Buyx sowie Moderatorin Julia Westlake versammelt. "Früher war der Gegner sichtbarer": Iris Berben, die unter anderem mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnete Schauspielerin, spricht darüber, wie sich das Streiten verändert hat. Heute herrsche Anonymität, man adressiere das Gegenüber nicht mehr, sondern setze verteidigende Statements ab. "Streiten hat immer dazu beigetragen, mehr über etwas, aber auch mehr über sich selbst zu erfahren." Berben ist es, die in der Diskussionsrunde zweimal zentrale Fragen aufwerfen wird. Zuerst: "Viele Menschen fühlen sich nicht gesehen, nicht gehört, nicht verstanden. Wie holt man diese Menschen wieder ab?" Friedman antwortet: "Indem man sich mit ihnen streitet."

Wir haben diesen Muskel, diese Basics, die Grundlagen nicht mehr trainiert.

Alena Buyx

Als nach Diskussionen in der Schulklasse Alena Buyx‘ zehnjähriger Sohn sie fragt, ob es eigentlich falsch sei, dass Putin die Ukraine überfallen hat, ist die Medizinethikerin verblüfft: "Ich streite beruflich und stelle plötzlich fest, ich kann das gar nicht besonders gut. Wir haben diesen Muskel, diese Basics, die Grundlagen nicht mehr trainiert." Die junge Generation wachse in einer Zeit auf, in der ehemalige Selbstverständlichkeiten nicht mehr vorausgesetzt, sondern wieder geklärt werden müssten.

"Ohne Wissen ist Streiten leer!", klagt Michel Friedman. Buyx möchte "ergänzend widersprechen": Ja, Wissenschaft etwa sei organisierte Wahrheitssuche, "wir irren uns empor, indem wir uns gegenseitig angreifen." Aber "auf der Wissensebene lässt sich ein Streit nicht gewinnen. Du erreichst die Leute nicht. Es braucht die emotionale Ebene – und die ist noch anstrengender."

Ich gebe zu, mir fehlt dann manchmal der Mut. Ich bin gehemmt.

Iris Berben

Anstrengend und verunsichernd: Berben berichtet von einer Begegnung im Anschluss an die Lesung einer Holocaust-Überlebenden, als eine Frau auf sie zukam: "Die Russen haben uns damals von den Nazis befreit und jetzt sollen sie unsere Feinde sein? Das sind alles Fake-News! Die Ukrainer sind unsere Feinde!" Die Schauspielerin stockt, ist sichtlich bewegt. "Ich gebe zu, mir fehlt dann manchmal der Mut. Ich bin gehemmt. Natürlich müssen wir streiten, aber wie begegnet man so einer Emotionalität?"

Streiten sei eine Frage der Vorbereitung, antwortet Buyx. "Man kann sich auf Verabscheuung vorbereiten." Sie verwende Humor, um mit ihrem Gegenüber auf die Beziehungsebene zu kommen und frage dann: "Warum sind Sie davon eigentlich so überzeugt?"

Und doch: Manchmal sei Diskussion nicht möglich. Berben habe lernen müssen, Dinge nicht an sich adressiert zu sehen, sie nicht persönlich zu nehmen. Und Friedman erzählt: "Ich lebe über 50 Jahre in diesem Land und vom ersten Tag an war ich ein ‚Drecksjude‘." Man habe ihn mit "Heil Hitler, Herr Friedman" angesprochen: "Da habe ich den Mund gehalten. Aber danach habe ich ihn angezeigt und er ist in den Knast gegangen."

Alena Buyx

Michel Friedman

Das Großartigste am Menschen

Friedman sagt, er streite nicht, um zu gewinnen: "Ich streite mich, um zu überprüfen, ob ich gut genug ausgerüstet bin." Aber: "Gewalt ist keine Meinungsfrage, sondern eine menschenfeindliche Haltung." Und doch hält er ein enthusiastisches Plädoyer: "Aber das Großartigste am Menschen ist, dass wir lernen können. Wir Menschen sind nicht hilflos. Ich habe unterstellt, dass die Millionen Menschen, die noch wenige Jahre zuvor meine Familie umgebracht haben, lernen können. Und wenn ich das bei echten Nazis getan habe, dann kann ich es bei diesen, denen wir heute begegnen, auch."

Worauf also kommt es an, beim Streiten? Friedman, Berben und Buyx tragen zusammen: Anerkennung. Das Gegenüber als Menschen anzuerkennen. Neugierde, um zuhören zu können. Zweifel und Selbstzweifel: "Die Erkenntnis, dass die Wahrheit nie greifbar sein wird. Es gibt nicht das letzte Wort." Und Empathie: die Bereitschaft, "Verständnis aufzubringen, für das Andere, um damit umgehen zu lernen, indem man versteht, worin es begründet ist."

Aber schauen Sie mich an: Es ist so sinnlich, es macht so viel Spaß, zu streiten!

Michel Friedman

Noch einmal wird Friedmans Ton mahnend. Diktaturen und auch Demokratien griffen gegenwärtig diese Grundlagen des freien Streitens an, zuerst die Anerkennung, um dann Freiheiten zu verbieten und Angst zu machen. "Wir sind nicht mehr in den Anfängen. Wir sind mittendrin." Es bliebe den Demokraten nicht mehr viel Zeit, um wehrhaft zu werden. "Aber schauen Sie mich an: Es ist so sinnlich, es macht so viel Spaß, zu streiten! Ob man damit durchkommt? Keine Ahnung. Aber der Versuch ist es immer wert."

Buyx stimmt zu: "Wenn wir streiten, haben wir eigentlich schon gewonnen. Dann sind wir schon auf Augenhöhe, haben uns als Gegenüber anerkannt und verharren nicht in Gleichgültigkeit." Berben, nach ihrer Hoffnung und Vision gefragt, antwortet prägnant: "Aufstehen. Laut sein.“ Und Moderatorin Westlake schließt die Veranstaltung: „Ich wünsche Ihnen: Streiten Sie schön! Und damit ist die Woche der Meinungsfreiheit eröffnet."

Moderatorin Julia Westlake, Iris Berben, Alena Buyx und Michel Friedman (von links)