Buchhandel im Stadtteil

Unschlagbare Nähe zu den Kunden

21. September 2020
von Nils Kahlefendt

In Jörg Scholz-Nollaus Buchladen »Lesezeichen« in Dresden findet man Lyrik und spannende Titel aus der Vor-Vor-Saison.

Ein Couch-Potato ist Jörg Scholz-Nollau nicht. Aber am Abend des Einheits-Tags schaute er die ARD-Verfilmung von Uwe Tellkamps »Turm«. Schließlich hatte der Autor die Premiere seines ersten Buchs, des in sechs Exemplaren erschienenen »Nautilus«, 1999 in die kurz zuvor eröffnete Buchhandlung von Scholz-Nollau in der Dresdner Neustadt verlegt.

Von den im Szeneviertel zu Mitte der Nullerjahre wie Pilze aus dem Boden schießenden Sortimenten sind inzwischen einige verschwunden, das »Lesezeichen« zeigt noch immer Flagge. Viele kleine Aktivitäten sind es, mit denen Scholz-Nollau der Kundenflucht in die Anonymität des Netzes begegnet: etwa sein Lesezeichen, das jedem verkauften Buch beiliegt; bedruckt mit einem Gedicht und Postscriptum: »Warum am Amazonas kaufen, wenn’s am Ort geht? Buch heute bestellen – und morgen bei einer Tasse Kaffee abholen. Oder einfach zusenden lassen.«

Den Kaffee gibt’s wirklich, und die kleine Dauerwerbefläche wirkt; Scholz-Nollau spürt eine wachsende Sensibilität der Kundschaft dafür, dass ihr Einkaufsverhalten ziemlich unmittelbar mit der Händlerdichte im Kiez zusammenhängt. Und die wiederum mit Lebensqualität. Aber: »Nur die Moralkeule schwingen hilft nichts. Man muss zeigen, dass man Vorteile zu bieten hat. Und das kostet Kraft!« Die »Lesezeichen«-Website etwa listet Buchtipps und Jahres-Bestseller des Ladens auf – spannende Titel, die in Buchkaufhäusern nie eine Chance hatten.

Als Mitbegründer des Literaturforums Dresden ist Scholz-Nollau zudem extrem gut vernetzt – und lädt Autoren zu Lesungen, die er allein kaum stemmen könnte. Dass das Herz des Buchhändlers für Lyrik schlägt, er sein Sortiment nicht nach optimierter Umschlagsgeschwindigkeit zusammenstellt, macht Betriebsberater zwar manchmal blass. Seine Kunden lieben den Laden aber genau deshalb: weil sie dort finden, was sie nicht gesucht haben. Wirtschaftlicher Wahnsinn eines idealistischen Überlebenskünstlers? Vorsicht: Im ersten Halbjahr hat das »Lesezeichen« beim Umsatz leicht zugelegt.

(Der Artikel ist erstmals in Börsenblatt 41 / 2012 erschienen)