Buchmesse-Reportage

Warum noch nach Frankfurt und wozu?

20. Oktober 2021
von Torsten Casimir

An so einem Tag eins der Buchmesse eins nach der globalen Zwangspause sind Grundsatzfragen in Frankfurt gar nicht mal unbeliebt. Also dann: Warum seid ihr alle gekommen? Und was soll werden? Re-Start oder Zeitenwende?

Erste Erleichterung macht sich breit beim Aufstieg aus der U-Bahn zum zentralen Messe-Eingang: Der alte Geigenspieler ist noch da, spielt so virtuos wie immer. Die Pandemie hat ihm nichts anhaben können. Einige Besucher bleiben stehen, hören ihm für ein Weilchen zu. Man hetzt nicht mehr so arg, vielleicht ist auch das eine Folge der vergangenen Zeit.

Geräumige Stände, weite Gänge, eine Agora ohne Pavillon – das Messegelände zeigt sich großzügig eingerichtet, Ansammlungen von Menschenmengen müssen nicht befürchtet werden, zu spendabel der Umgang mit Fläche. Außer morgens am Eingang: Dort stehen in acht Reihen nebeneinander die Leute Schlange und wollen durch die Kontrolle. So ähnlich mag es auf Ellis Island im 19. Jahrhundert ausgesehen haben: Einreise in die Neue Welt. Sie beginnt mit Warten.

Ich habe Glück, neben mir wartet Philipp Neie, der CEO von Schweitzer Fachinformationen. Auf meine Frage nach dem Warum und Wozu seines Kommens antwortet er differenziert: „Die menschlichen Bedürfnisse nach Begegnung und Austausch haben sich nicht geändert, allenfalls haben sie sich noch verstärkt.“ Solche Zwecke einer Fachmesse ließen sich nicht durch digitale Ersatzmaßnahmen erfüllen. „Aber die wirtschaftlichen, die technischen Ziele, die kann ich auch anders erreichen als durch meinen physischen Besuch“, glaubt Neie. Buchhandel steht für Schweitzer ohnehin nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit. Nur noch 20 Prozent seines Geschäfts entfielen auf Bücher, und gar nur zwei Prozent auf Umsätze, die im stationären Geschäft gemacht würden.

Die menschlichen Bedürfnisse nach Begegnung und Austausch haben sich nicht geändert, allenfalls haben sie sich noch verstärkt.

Philipp Neie, Schweitzer Fachinformationen

Da muss man in Frankfurt also nicht unbedingt Buchhändlerinnen treffen – die, jedenfalls an Tag eins, ohnehin eher spärlich auftauchen. Das ist gegen Mittag zumindest der Eindruck von Umbreit-Chef Clemens Birk. „Bislang ist bei uns noch nicht viel los. Vor Corona hatten wir immer schon am Mittwoch die Hütte voll mit Buchhändlern.“

Hütte voll kann am Vorabend des ersten Messetages immerhin der Verlag Klett-Cotta melden. Verleger Tom Kraushaar und seine Pressechefin Katharina Wilts haben zu einem Abendessen ins Goldmund, das Restaurant im Literaturhaus an der Schönen Aussicht eingeladen, und es kommen diesmal sogar mehr Menschen als in den Jahren vor der Pandemie. Nicht verwunderlich, steht doch Klett-Cotta mit seinem Verlagsevent allein auf weiter Flur – allen steht ja die Woche der ansonsten ausfallenden Partys bevor.

Der besondere Gast des Verlagsabends, die Philosophin Svenja Flaßpöhler, sprach anlässlich ihres heute erscheinenden Buches „Sensibel“ über die Ideengeschichte der Sensibilität, über Grenzen des Zumutbaren und die Zumutungen von Grenzüberschreitungen, über die schützenden und die verletzenden Seiten von Empfindlichkeit, über echtes und bloß behauptetes Betroffensein. Schnell wurde allen im Goldmund klar: Die Autorin, dialektisch geschult, erkundet hier aufs Klügste ein Thema, das zugleich das Zeug zum Leitthema dieser Messewoche hat.

Die gesteigerte Erregbarkeit der Gesellschaft erreicht schon an Tag eins auch das Branchentreffen. Gestritten wird, wieder einmal, um die Frage, wo entlang eine Linie zwischen Toleranz und Meinungsfreiheit auf der einen Seite und dem Eintreten gegen extremistische Bedrohungen auf der anderen Seite laufen könnte. Konkret geht es heuer um die Autorin Jasmina Kuhnke, die, wie sie selbst angibt, aus Angst vor rechtsextremen Angriffen ihren geplanten Auftritt auf der Messe absagt (weitere Autorinnen und Autoren folgen aus Solidarität Kuhnkes Beispiel) – verbunden mit scharfer Kritik an der Messeleitung, die dem rechten Verlag Jungeuropa und seinem Verleger Philipp Stein eine Bühne biete: Was ist noch zuzumuten und auszuhalten, ab wann aber wird der Verweis auf den Vorrang der Meinungsfreiheit so abstrakt, dass er Entscheidungen nicht mehr rechtfertigen hilft?

Während vorwiegend im Internet über den Fall debattiert wird, sitzt der Chef des größten Publikumsverlags der Welt im Frankfurt Studio und wirbt für seine von Optimismus durchwirkte Sicht auf die global glänzende Lage des Buches und des Lesens. „The readers are so resilient!“, ruft Markus Dohle, CEO von Penguin Random House, im Gespräch mit Porter Anderson von Publishing Perspectives. So lautet denn Dohles vorläufige, erstaunliche Corona-Bilanz: immer mehr Leserinnen und Leser und eine weltweit wachsende Nachfrage nach dem gedruckten Buch. Auf der Agora des Messegeländes, wohin die Erzählung des Deutschen aus New York auf einen großen Bildschirm übertragen wird, findet sich zu früher Stunde noch niemand ein, den er mit seiner Zuversicht anstecken könnte. Was wirklich schade ist.

Ein paar Meter weiter in Halle 4, wo Dohle im Studio sitzt und evangelisiert, stellt das Mainzer Gutenberg-Museum seine „Messe-Presse“ aus, wie der Buchdruckermeister Heinz Noack mir stolz zeigt: den originalgetreuen Nachbau einer Spindelpresse, so wie sie Johannes Gutenberg einst aus einer Weinpresse weiterentwickelt hat. Schon am Mittwochmorgen kamen zahlreiche Zuschauer, als Noack seine 1,5 Tonnen schwere Gerätschaft vorführte. In der Nachbarschaft des Druckers haben die Wissenschaftsverlage ihre Auftritte, da erklärt sich das Interesse an technischen Revolutionen, offenkundig auch an solchen älterer Natur.

Einer dieser Wissenschaftsverleger, Jürgen Hogrefe, steht am Morgen noch recht einsam vor seinem Stand, der ihm auch vor der Pandemie schon zur Präsentation des Verlagsprogramms gedient hat. Warum er in unverminderter Größe zurück sei? „Es geht doch auch darum, ein Zeichen zu setzen und Solidarität zu zeigen“, antwortet Hogrefe. Die Frankfurter Buchmesse, die dafür sorge, dass für eine Woche das Buch weltweit ein Thema in den Medien sei, leiste für das Branchenmarketing Unschätzbares.

Überzeugt ist Jürgen Hogrefe auch davon, dass die Vernetzung und der Austausch, auch die zufällige Begegnung mit Kolleginnen und Kollegen „durch nichts Digitales substituierbar“ sei. Für den Verleger aus Göttingen steht fest: Frankfurt ist und bleibt der richtige Ort, sich dort im Oktober mit der Fachwelt physisch zu treffen. „Es geht uns Verlagen ja auch nicht schlecht“, sagt er. „Wir hatten in der Pandemie unseren Stresstest, und wir haben ihn bestanden. Das ist doch ein schöner Grund, entspannt auf eine Buchmesse zurückzukehren.“

Wir hatten in der Pandemie unseren Stresstest, und wir haben ihn bestanden. Das ist doch ein schöner Grund, entspannt auf eine Buchmesse zurückzukehren.

Jürgen Hogrefe

Ähnlich haben das Begoña Lobo und Vicente Ferrer gesehen. Die beiden Spanier sind mit ihrem kleinen, feinen Verlag Media Vaca nach einem Jahr der erzwungenen Abstinenz wieder dabei. „Rebuilding the old links“, wie Begoña die Wiederherstellung ihres Netzwerks formuliert. Und natürlich blicken beide schon in Vorfreude auf 2022, wenn Spanien Gastland der Frankfurter Buchmesse sein wird. Gelangt das Branchentreffen am Main dann wieder zu vertrauter Größe? Der Verlegerin aus Valencia erscheint das jedenfalls als eine realistische Aussicht.