Sabine Ludwig über die "Schere im Kopf"

"Man unterschätzt Kinder einfach"

19. April 2023
von Börsenblatt

Die Diskussion über Cancel Culture ist in vollem Gange: Kinderbuchautorin und Übersetzerin Sabine Ludwig warnt davor, Kinder zu unterschätzen und ihnen Bücher vorzusetzen, denen alle Spitzen genommen worden sind.

Sabine Ludwig vor blauem Studiohintergrund

Autorin und Übersetzerin Sabine Ludwig

Ein Gespräch in der Kinderbuchpraxis

Bei dem Gespräch handelt es sich um einen Auszug aus dem Börsenblatt-Podcast „Kinderbuchpraxis“. Zu Wort kommen neben Sabine Ludwig Börsenblatt-Redakteur Stefan Hauck sowie Ralf Schweikart, Kinderbuchexperte und Vorsitzender des AKJ, Arbeitskreis für Jugendliteratur.

Unterschätzt und überfordert: Kinder und Bücher

Stefan Hauck: Der „Telegraph“ hat in England die Geschichte über die Eingriffe in das Werk von Roald Dahl ins Rollen gebracht. Danach ging das Thema durch die ganze Presse. Zu lesen war, was alles in den Büchern verändert wurde und auch, dass nicht nur einzelne Wörter eliminiert, sondern auch Erklärungen hinzugefügt wurden. In „Hexen hexen“ zum Beispiel hat der Verlag ergänzt, dass auch andere Menschen - nicht nur Hexen - Perücken tragen. Es kam immer mehr und immer mehr hinzu. Ich frage mich: Ist das im Sinne des Autors? Nun, Dahl ist tot, wir wissen nicht, ob er diese Ergänzungen so mitgetragen hätte. Fest steht: Herausgekommen ist am Ende ein komplett anderer Dahl als der subversive, den man so kennt. Nach einem großen öffentlichen Aufschrei reagierte der Verlag Puffin Books mit der Ankündigung, zusätzlich eine Neuausgabe zu bringen, die alles so übernimmt, wie es früher war. Den „Ursprungs-Dahl“ kann man sozusagen auch wieder kaufen. Sie kennen Dahls Werk gut, Frau Ludwig und haben einige seiner Bücher ins Deutsche übersetzt. Wenn Sie diese Änderungen betrachten, ist das für Sie dann überhaupt noch Roald Dahl?

Sabine Ludwig: Nein, in einem Interview mit der „Zeit“ habe ich gesagt: „Das ist für mich eine Mogelpackung!“ Denn Dahl steht drauf, aber Dahl ist nicht drin. Denn gerade, was Sie eben sagten, dieses Subversive, das Dahl auszeichnet, dieses ständige Konterkarieren von Erwartungen, das zeichnet Dahl ja aus! Genauso wie seine Überspitzungen: Da sind die Kinder eben „fett“ und „fies“ und ich weiß nicht was noch alles. Auf der anderen Seite gibt es dann aber auch immer das gute Kind, das vielleicht fast schon ein bisschen zu gut ist. Aus den Erfahrungen von Lesungen vor Schulklassen weiß ich: Die Kinder lieben das! Sie lieben die Überspitzung, auch diese Schwarz-Weiß-Malerei. So ist es ja auch im Märchen: Eine extremere Schwarz-Weiß-Malerei kann man sich ja gar nicht vorstellen. Für Kinder ist das unendlich wichtig, vor allem, wenn sie noch klein sind. Nun kommen aber Kritiker, die fordern, man müsse doch Charaktere differenziert darstellen und man müsse zeigen, dass jeder seine guten und seine schlechten Seiten hat. Ja schon, aber bitte nicht in Kinderbüchern, meine ich! Denn diese Grautöne und Schattierungen der Charaktere können Kinder noch gar nicht erfassen.

Stefan Hauck: Es kommt ja immer auf den Zusammenhang an – und der wird leider oft gar nicht gesehen. Stattdessen werden einzelne Sätze rausgenommen und schon ist die Aufregung da, ohne das Werk überhaupt zu kennen. Das finde ich regelrecht beängstigend, wenn sich jeder ein Urteil anmaßt, ohne ein Buch überhaupt gelesen zu haben.

Ralf Schweikart: Bei „Hexen hexen“ ist es ja am Ende so, dass der Junge als Maus endet. Also das ganz große Happy End ist es nicht, aber der Junge ist auch nicht unglücklich damit, verzaubert zu bleiben. Schon beim Lesen vor vielen Jahren habe ich mich gefragt, ob einmal Kritiker sagen werden: „Das ist doch jetzt kein richtiges Happy End, wenn das arme Kind jetzt als Maus weiterleben muss? Das kann man doch Kindern nicht zumuten!“

Stefan Hauck: Aber Kinder mögen ja Verwandlungen, Kinder mögen Extreme! Dass Kinder die tollsten Fantasien ausleben können – ich finde, das ist das mit Schönste, was Kinderliteratur leisten kann. Im Bild wie auch im Text!

Dr. Stefan (Stefan Hauck) und Mr. Ralf (Ralf Schweikart) mit Büchern in Hand und im Ärztekittel umgeben von Büchern

Dr. Stefan (Stefan Hauck) und Mr. Ralf (Ralf Schweikart) bei der Arbeit

Grautöne und Schattierungen der Charaktere können Kinder noch gar nicht erfassen.

Klassiker umschreiben?

Sabine Ludwig: Ich erinnere mich gut, dass ich als Kind den „Struwwelpeter“ gelesen habe und vor allen Dingen die Geschichte mit dem Schneider, der da die Daumen abschneidet. Und ich hatte, während ich das las, den Daumen im Mund. Es war aber nicht so, dass mich das jetzt traumatisiert hätte. Mich haben ganz andere Sachen traumatisiert als Kind, aber nie und nimmer irgendwelche Literatur! Man unterschätzt Kinder einfach. Man nimmt an, dass Kinder alles für bare Münze nehmen, was sie sehen und was sie hören und was sie lesen. Kinder können aber sehr wohl zwischen Fantasie und der Realität unterscheiden. Und auch Kinder haben gewalttätige Fantasien, die sie ja auch brauchen und das darf auch nicht sanktioniert werden.

Ralf Schweikart: Ich glaube, wenn man den „Struwwelpeter“ damals mit den gleichen Kriterien geschrieben hätte, die jetzt Kinderbüchern angelegt werden, wüssten wir gar nicht mehr, dass es den „Struwwelpeter“ jemals gegeben hat …

Sabine Ludwig: Der wäre verschwunden!

Ralf Schweikart: Aber ist es nicht ein Zeichen von einer besonderen Sensibilität, die jetzt gerade insgesamt die Kinder- und Jugendliteratur erfasst hat? Dass man sich bei vielen Dingen fragen muss, ob man das so übersetzen oder auch so schreiben darf?

Wenn alles potenziell Anstößige eliminiert ist, bilden die Bücher dann eigentlich eine Parallelwelt ab, die es so gar nicht gibt?

Die Schere im Kopf

Stefan Hauck: Das ist eine Diskussion, die auch gerade in Bologna auf der Internationalen Jugendbuchmesse Viele beschäftigt hat. Viele Verlagsmitarbeiter und -mitarbeiterinnen sagen inzwischen: „Boah, das macht's viel zu kompliziert!“ Inzwischen stellt sich die Frage: Wenn alles potenziell Anstößige eliminiert ist, bilden die Bücher dann eigentlich eine Parallelwelt ab, die es so gar nicht gibt?

Sabine Ludwig: Ich bin ehrlich gesagt froh, dass ich schon so alt bin. Ich möchte heute nicht noch mal anfangen, Kinderbücher zu schreiben. Inzwischen habe ich nämlich auch schon längst die Schere im Kopf und damit wird wildes Fantasieren und Fabulieren immer schwieriger.

 

Die ganze Podcast-Folge können Sie hier anhören!

Über die Kinderbuchpraxis

Die Kinderbuchpraxis erscheint zweimal im Monat - jeweils am Freitag. Die nächste Folge erscheint am 28. April. Dann ist „Sams“-Autor Paul Maar zu Gast. Zu hören ist der Podcast überall, wo es gute Podcasts gibt.