Auf der Suche nach geeigneten Themen stieß ich zufällig auf die Nachricht, dass das Tagebuch der Sophie Scholl bei ihrer Verhaftung 1943 von der Gestapo nicht entdeckt worden sei. Sollte Sophie Scholl wie Anne Frank ein Tagebuch geschrieben haben? Ich erinnerte mich, wie ich 1954 als Schülerin in einem fast leeren Theatersaal des Oldenburger Schlosses das Anne-Frank-Stück gesehen hatte, ahnungslos und tief erschüttert. Meine Neugier war geweckt und damit die Idee, den Text in meiner Reihe zu veröffentlichen. Ich kannte das Buch von Inge Aicher-Scholl über die Weiße Rose, in dem das Gedächtnis an die Geschwister als eine unantastbare Einheit verankert war. Aus ihrem Tagebuch würden wir vielleicht erfahren, welche Beziehung sie zu ihrem älteren Bruder im Alltag und im Widerstand hatte. War sie die kleine Schwester, die ihm blind gefolgt war? War es die eigene Entscheidung?
Mit diesen Fragen im Kopf fuhr ich wenig später nach Rotis auf der Schwäbischen Alb, wo Inge Aicher-Scholl, damals Anfang 60, mit ihrem Mann, dem Architekten Otl Aicher, mich zum Gespräch empfing. Es war ein heller, lichtdurchfluteter Raum, in dem sie mir am Tisch gegenübersaß. Schon nach wenigen, freundlich gewechselten Sätzen wurde mir bedeutet, dass es das Tagebuch nicht gäbe.
Zurück in Ravensburg, rief ich meinen Freund und Autor Hermann Vinke in Hamburg an – er hatte für dressler menschen eine Biografie über Carl v. Ossietzky geschrieben: Ob er Zeit und Lust habe, ein längeres Interview mit Inge Aicher-Scholl über ihre Schwester Sophie zu führen und als Buch in der Mädchen & Frauen-Reihe zu veröffentlichen? Er stimmte zu, und alles schien auf einem reibungslosen Weg zu sein. Dem erfahrenen, politischen Journalisten Hermann Vinke gelang es, in den Gesprächen, die sich über Tage hinzogen, Fragen zu stellen, die für Inge Aicher-Scholl einen schmerzhaften Erinnerungsprozess bedeuteten. Ich ließ die Bänder im Verlag abschreiben. Hermann Vinke schickte Inge Aicher-Scholl eine erste Fassung seines Manuskripts. Wenig später brach Inge Aicher-Scholl das Projekt ab. Jetzt erst hatte sie die Tragweite ihrer Antworten erkannt: Sie hatte Sophie Scholl und ihren Bruder vom Podest geholt und sie zu Menschen gemacht. Sie hatte von Freunden und Festen erzählt, vom Alltag in einer Diktatur, von Sophies Zeit beim BDM und im Reichsarbeitsdienst, und sie hatte ihren Widerspruch zwischen der tiefen Liebe zu einem Mann geschildert, der zugleich dem von ihr abgelehnten Hitler-Staat als Offizier diente, zu Fritz Hartnagel.
Es war nicht leicht, im Verlag eingestehen zu müssen, dass das Buchprojekt, das ich so vehement vertreten und das Kosten verursacht hatte, gescheitert war. Als ich erfuhr, dass Inge Aicher-Scholl schwerkrank gewesen war, nahm ich mir ein Herz und bat sie in einem Brief, noch einmal das Projekt zu überdenken, denn sie sei die einzige Zeugin, nur sie könne uns, den Nachgeborenen, über das Damals authentisch berichten. Danach ging in der Tat alles reibungslos. Hermann Vinke schickte die letzte Fassung seines Manuskripts.