Elisabeth Raabe zum 100. Geburtstag von Sophie Scholl

Als Inge Aicher-Scholl die alte Truhe öffnete

7. Mai 2021
von Börsenblatt

Am 9. Mai 2021 wäre Sophie Scholl, Mitglied der Widerstandsgruppe "Weiße Rose", 100 Jahre alt geworden. Für Verlegerin Elisabeth Raabe ein Anlass, sich an ein außergewöhnliches Buch zu erinnern: "Das kurze Leben der Sophie Scholl" von Hermann Vinke – ein Projekt, das ihr und dem Autor zugleich tiefe Einblicke in das Leben der Familie Scholl gewährte.

Es wird viel in diesen Tagen über Sophie Scholl geschrieben, die Widerstandskämpferin, es sind neue Bücher über sie und Hans Scholl erschienen. Aber ein Buch wird nicht erwähnt. Ein Buch, das 1980 erschien, sich in den nächsten Jahrzehnten fast eine Million Mal verkaufte, das mit dem Deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnet wurde, das in den USA und Japan in Übersetzungen erschien und das eine Generation von Jugendlichen und jungen Erwachsenen begleitet und dessen Autor Jahr für Jahr vor Hunderten von Schülerinnen und Schülern gelesen hat – Das kurze Leben der Sophie Scholl von Hermann Vinke, damals NDR-Redakteur, erschienen im Otto Maier Verlag Ravensburg in der von mir herausgegebenen Reihe Mädchen & Frauen, Broschur, violetter Einband, 192 Seiten, Gespräche mit der Schwester Inge Aicher-Scholl und anderen, mit Briefen, Zeichnungen und Aufsätzen von Sophie Scholl und Fotos – ein Buch, das vermutlich noch heute in manchem Bücherregal steht und eigentlich nicht vergessen werden sollte, aber vergessen wird in diesen Tagen, weil es das Etikett "Jugendbuch" trägt, obwohl jede, jeder, die, der ein Buch schreibt, auf den Schultern einer, eines anderen steht.

Wie jedes Buch begann auch dieses mit einer Idee. Ich war von Christian Stottele, dem damaligen Verlagsleiter des Kinder- und Jugendbuchs im Otto Maier Verlag Ravensburg aufgrund meiner Arbeit als Lektorin im Cecilie Dressler Verlag Hamburg abgeworben worden. Meine Reihe dressler menschen war ein Erfolg. Ich hatte Journalisten gewonnen, Biografien für "Junge Erwachsene" zu schreiben, über James Dean, John F. Kennedy, Heinrich Böll und andere, ein breites Spektrum. Es war eine Zeit der Leichtigkeit, Ende der 1970er Jahre, in der in Jugendbuchverlagen nach neuen Inhalten und zeitgemäßen Themen gesucht wurde. So konnte ich in kürzester Zeit bei Otto Maier die eigene Reihe Mädchen & Frauen entwickeln, authentische Erfahrungsbücher, Interviewbücher über soziale Wirklichkeiten, Mut-Mach-Bücher.

Auf der Suche nach geeigneten Themen stieß ich zufällig auf die Nachricht, dass das Tagebuch der Sophie Scholl bei ihrer Verhaftung 1943 von der Gestapo nicht entdeckt worden sei. Sollte Sophie Scholl wie Anne Frank ein Tagebuch geschrieben haben?

Elisabeth Raabe

Auf der Suche nach geeigneten Themen stieß ich zufällig auf die Nachricht, dass das Tagebuch der Sophie Scholl bei ihrer Verhaftung 1943 von der Gestapo nicht entdeckt worden sei. Sollte Sophie Scholl wie Anne Frank ein Tagebuch geschrieben haben? Ich erinnerte mich, wie ich 1954 als Schülerin in einem fast leeren Theatersaal des Oldenburger Schlosses das Anne-Frank-Stück gesehen hatte, ahnungslos und tief erschüttert. Meine Neugier war geweckt und damit die Idee, den Text in meiner Reihe zu veröffentlichen. Ich kannte das Buch von Inge Aicher-Scholl über die Weiße Rose, in dem das Gedächtnis an die Geschwister als eine unantastbare Einheit verankert war. Aus ihrem Tagebuch würden wir vielleicht erfahren, welche Beziehung sie zu ihrem älteren Bruder im Alltag und im Widerstand hatte. War sie die kleine Schwester, die ihm blind gefolgt war? War es die eigene Entscheidung?

Mit diesen Fragen im Kopf fuhr ich wenig später nach Rotis auf der Schwäbischen Alb, wo Inge Aicher-Scholl, damals Anfang 60, mit ihrem Mann, dem Architekten Otl Aicher, mich zum Gespräch empfing. Es war ein heller, lichtdurchfluteter Raum, in dem sie mir am Tisch gegenübersaß. Schon nach wenigen, freundlich gewechselten Sätzen wurde mir bedeutet, dass es das Tagebuch nicht gäbe.

Zurück in Ravensburg, rief ich meinen Freund und Autor Hermann Vinke in Hamburg an – er hatte für dressler menschen eine Biografie über Carl v. Ossietzky geschrieben: Ob er Zeit und Lust habe, ein längeres Interview mit Inge Aicher-Scholl über ihre Schwester Sophie zu führen und als Buch in der Mädchen & Frauen-Reihe zu veröffentlichen? Er stimmte zu, und alles schien auf einem reibungslosen Weg zu sein. Dem erfahrenen, politischen Journalisten Hermann Vinke gelang es, in den Gesprächen, die sich über Tage hinzogen, Fragen zu stellen, die für Inge Aicher-Scholl einen schmerzhaften Erinnerungsprozess bedeuteten. Ich ließ die Bänder im Verlag abschreiben. Hermann Vinke schickte Inge Aicher-Scholl eine erste Fassung seines Manuskripts. Wenig später brach Inge Aicher-Scholl das Projekt ab. Jetzt erst hatte sie die Tragweite ihrer Antworten erkannt: Sie hatte Sophie Scholl und ihren Bruder vom Podest geholt und sie zu Menschen gemacht. Sie hatte von Freunden und Festen erzählt, vom Alltag in einer Diktatur, von Sophies Zeit beim BDM und im Reichsarbeitsdienst, und sie hatte ihren Widerspruch zwischen der tiefen Liebe zu einem Mann geschildert, der zugleich dem von ihr abgelehnten Hitler-Staat als Offizier diente, zu Fritz Hartnagel.

Es war nicht leicht, im Verlag eingestehen zu müssen, dass das Buchprojekt, das ich so vehement vertreten und das Kosten verursacht hatte, gescheitert war. Als ich erfuhr, dass Inge Aicher-Scholl schwerkrank gewesen war, nahm ich mir ein Herz und bat sie in einem Brief, noch einmal das Projekt zu überdenken, denn sie sei die einzige Zeugin, nur sie könne uns, den Nachgeborenen, über das Damals authentisch berichten. Danach ging in der Tat alles reibungslos. Hermann Vinke schickte die letzte Fassung seines Manuskripts.

Zur Schlussredaktion fuhren wir beide noch einmal nach Rotis. Wir fanden zu unserer Überraschung den Tisch gedeckt, Otl Aicher hatte sich hinzugesellt, eine Flasche Wein wurde geöffnet, die Unterhaltung zog sich in die Länge, bis Inge Aicher-Scholl uns schließlich in ihr Zimmer unter dem Dach einlud. Sie hatte nur wenige Textstellen zu monieren. Als ich sie fragte, ob es vielleicht das eine oder andere Bild gäbe, stand sie auf, öffnete eine alte Truhe, nahm als Erstes die Totenmasken ihrer Eltern heraus, dann Mappen mit Fotos, Sophies Zeichnungen und Schulaufsätzen und legte sie vor uns auf den Tisch – erst in diesem Augenblick hatte Inge Aicher-Scholl zu dem Buchprojekt Ja gesagt. Es war weit nach Mitternacht, als wir mit den Originalen, damals gab es noch keine Scans, ins Auto stiegen. Es begann zu schneien. Das Projekt hatte ein unerwartetes, gutes Ende genommen.

Dank der tatkräftigen Hilfe des Herstellungsleiters Rudi Göggerle erschien Das kurze Leben der Sophie Scholl mit dem Layout von Adolf Heinzlmeier noch im Sommer 1980. Das Buch ist seitdem lieferbar. Der Erfolg zeichnete sich schnell ab. Endlich begann die Rezeption der Geschichte der Weißen Rose und der einzigen Frau in ihrem Kreis. Inge Aicher-Scholl öffnete nun auch einem Michael Verhoeven und anderen die Tür. Für mich aber ist und bleibt es eines meiner wichtigsten Erlebnisse in meinen Verlagszeiten.

Hinweis der Redaktion:
Hermann Vinkes Buch ist in der 25. Aufl. bei Ravensburger lieferbar (224 S., 7,99 €).
Weitere Biografien sind kürzlich unter anderem bei C.H. Beck, Insel, Propyläen und Ebersbach & Simon erschienen.