Kommentar zur Boykottforderung aus der Ukraine

Auf die russische Literatur hören

4. März 2022
von Michael Roesler-Graichen

Ist die Forderung nach einem Totalboykott russischer Bücher das richtige Signal? Das Ukrainische Buchinstitut, der ukrainische PEN und andere haben das gefordert. Warum es jetzt wichtig ist, auch die russische Literatur zu lesen und zu unterstützen.

Michael Roesler-Graichen

Die negative Kommunikationsspirale, die der Krieg gegen die Ukraine ausgelöst hat, lässt kaum noch Platz für eine differenzierte Betrachtung der Lage. Freund-Feind-Schema und eine harte Schwarz-Weiß-Moral legen sich über alles. Menschen, die unter Beschuss stehen, die um ihr Leben und ihre Existenz fürchten müssen, haben keine Zeit für Graustufen und die Reflexion innerer Widersprüche.

Deshalb kann man nachvollziehen, dass vier angesehene Buch- und Literaturinstitutionen der Ukraine einen Totalboykott russischer Bücher und Verlage gefordert haben. In unserer Meldung zum Totalboykott klangen schon erhebliche Zweifel an dieser Forderung an: Wer kann ernsthaft wollen, dass alle russischen Verlage und Autor:innen in Kollektivhaftung genommen werden? Dazu ist die russische Literatur, auch der Gegenwart, ein zu wichtiges Gut, als dass sie einer militärischen Eskalation geopfert werden dürfte. Deshalb berichten wir im Börsenblatt auch über Proteste gegen diesen Boykottaufruf und über die Situation russischer Autor:innen wie Wladimir Kaminer, die nun in Deutschland Anfeindungen ausgesetzt sind.

Was wäre die Literatur, was wäre die Weltliteratur ohne russische Schriftsteller:innen und Dichter:innen? Das kann nur eine rhetorische Frage sein. Man braucht nur Namen wie Dostojewskij, Gogol, Tolstoi oder Achmatowa aufzurufen, um das Maßlose der Boykottforderung zu begreifen. Und selbst wenn es Autor:innen gibt, die direkt oder versteckt Kremlpropaganda verbreiten, dann kennt man zu recht ihre Namen (hierzulande) nicht. Denn es gibt ja nach wie vor couragierte, herausragende Autor:innen in Russland, die aus ihrer oppositionellen Haltung kein Hehl machen: Ljudmila Ulitzkaja, Viktor Jerofejew, Vladimir Sorokin und viele andere – Stimmen, die in ihren Werken mit chiffrierten Botschaften oder den Mitteln der Satire das Regime Putins decouvrieren und sich zugleich offen gegen den Krieg stellen. Es sind Schriftsteller:innen, denen man zuhören, die man lesen und die man unterstützen sollte. Denn sie stehen für das bessere Russland.

Erlauben Sie mir noch ein persönliches Wort zum Schluss: Ich habe die Meldung zur ukrainischen Forderung nach einem Totalboykott selbst aufbereitet und veröffentlicht. Und ich lese seit meiner Kindheit russische Literatur, habe Russisch gelernt und später an einer studentischen Theateraufführung in russischer Sprache teilgenommen. Meine Rolle war die des russischen Oberstleutnants Werschinin in Tschechows "Drei Schwestern". Während meiner Zeit im Literaturhaus in Kiel (bis 1999) hatte ich zahlreiche russische und weißrussische Autor:innen zu Gast, unter anderen Vladimir Sorokin, Viktor Jerofejew und die spätere Friedenspreisträgerin Swetlana Alexijewitsch.