Treffen des Freedom to Publish Committee der IPA

Bald ein Jahr Ukrainekrieg: Verlegen unter Dauerbeschuss

7. Februar 2023
von Michael Roesler-Graichen

Hilfsappelle aus der Ukraine: Beim offenen Treffen des "Freedom-to-Publish"-Komitees der IPA am 7. Februar schilderten Vertreter der ukrainischen Buchbranche die prekäre Lage, in der sie allen Gefahren zum Trotz weiterhin Bücher produzieren. Ohne Hilfe von außen, das machten sie in ihren Berichten klar, dürfte es aber problematisch werden.

 Oleksandr Afonin

 Oleksandr Afonin

Eine Zoom-Konferenz mit anfänglichen Tücken: Als Kristenn Einarsson, der Vorsitzende des IPA-Komitees "Freedom to Publish" das gemeinsame Meeting mit Verleger:innen und Autor:innen aus der Ukraine eröffnen wollte, gab es erst einmal Hör- und Verständnisprobleme. Nicht alle ukrainischen Teilnehmer sprechen Englisch, und umgekehrt dürfte es nur wenige internationale Teilnehmer gegeben haben, die Ukrainisch verstehen. Eine Simultanübersetzung konnte technisch nicht realisiert werden, sodass Übersetzerin Tanya Zinchuk jeweils zeitversetzt in die eine und die andere Sprache übersetzen musste – was sie mit Bravour zwei Stunden lang tat.

Teilnehmer des Panels waren von ukrainischer Seite Oleksandr Afonin, Präsident des Ukrainischen Verlegerverbands, die Verlegerinnen Yuliya Orlova (Vivat Verlag, Charkiw) und Marjana Savka (Old Lion Publishing, Lwiw) sowie der Autor Ostap Slyvynsky.

Angriffskrieg zerstört auch verlegerische Infrastruktur

Welche Auswirkungen der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine auf das Verlagswesen und die gesamte Buchbranche im Land bisher gehabt hat, konnte Verlegerpräsident Oleksandr Afonin eindrücklich schildern. Auf die Frage, ob ukrainische Verlage und Autor:innen die Freiheit haben zu publizieren, antwortete Afonin mit "Ja und Nein!"

Ja, was eine mögliche Zensur oder sonstige Restriktionen des Staates betrifft. Die gebe es nicht, so der Verlegerpräsident. Nein, was die gesamten Rahmenbedingungen des Verlegens, die Infrastruktur im Land und das Recht, Ukrainisch zu sprechen, betrifft. Indem Russland all dies zerstöre, werde der Ukraine das Recht, frei zu publizieren, de facto abgesprochen. Dennoch hätten die ukrainischen Verleger:innen versucht, die elf Monate seit Beginn des Angriffskriegs am 24. Februar 2022 zu überleben. "Hunderte von Verlegern, Redakteuren und Autoren haben durch den Krieg ihr Leben verloren", so Afonin. Von den 1059 Verlagshäusern, die es noch Anfang 2022 gab, seien bis heute 563 geblieben. Die Zahl der produzierten Titel sei um 60 Prozent gesunken, die Menge der distribuierten Titel um 80 Prozent zurückgegangen. Dennoch seien im vergangenen Jahr 8,5 Millionen Bücher gedruckt worden, belletristische Titel ebenso wie Sach- und Kinderbücher sowie Lehrbücher. Andererseits, so Afonin, hätten ukrainische Schulkinder im vergangenen Jahr nicht mit gedruckten Schulbüchern arbeiten können.

Hunderte von Verlegern, Redakteuren und Autoren haben durch den Krieg ihr Leben verloren.

Oleksandr Afonin

Bitte um praktische Hilfe

Der Verlegerpräsident zeigte sich gegenüber seinen europäischen Kollegen sehr dankbar für die bisherige (finanzielle) Unterstützung, auch durch kostenlose Beratung und Webinare. Aber wie wolle man Bücher unter Artilleriebeschuss produzieren, wenn Druckunterlagen vernichtet würden, man nicht die nötigen Arbeitskräfte zusammenziehen und Manuskripte den Autoren zur finalen Korrektur schicken könne – ganz abgesehen von Stromausfällen, die zwölf bis 18 Stunden dauern.

Um das Überleben der Branche zu sichern, bat Afonin die europäischen Kolleg:innen um praktische Hilfsleistungen:

  • Sie könnten die Rechte an Werken ukrainischer Autor:innen kaufen und in verschiedenen Sprachen übersetzen lassen.
  • Sie könnten der ukrainischen Branche helfen, Bücher zu kaufen und in die noch verbliebenen Bibliotheken und Netzwerke des Landes zu bringen. Seit Beginn des Krieges wurden bisher landesweit 3.000 Bibliotheken durch russische Angriffe zerstört.
  • Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Verlagen und Buchhandlungen bräuchten zudem finanzielle Unterstützung, weil sie ihren Lebensunterhalt und ihr Zuhause verloren hätten.

Kriegsalltag einer Verlegerin

Wie der Kriegsalltag einer Verlegerin aussieht, schilderte im Anschluss Yuliya Orlova, CEO des Vivat Verlags in Charkiw, 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Sie wünsche niemandem, eine solche Erfahrung zu machen, wie sie sie gerade mache. Charkiw gehöre zu den meistbeschossenen Städten der Ukraine, und das eigene Leben sei permanent physisch bedroht.

Orlova nannte drei Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert sei: 

  • 80 Prozent der Verlagsmitarbeiter:innen hätten Charkiw verlassen, man arbeite aus der Distanz im Homeoffice. Es sei schwierig, die Gehälter der rund 100 Mitarbeiter:innen zu zahlen. Wegen der russischen Angriffe habe man zudem mit 20 LKWs alle Bücher an einen sicheren Ort bringen müssen.
  • Es sei schwierig, bei Furcht um die (eigene) Zukunft und das Leben der Soldaten weiterhin mit Liebe und Kreativität Bücher zu machen. "Ich beobachte eine psychische Wirkung auf unsere Mitarbeiter." Stromausfälle und Internetprobleme behinderten die Arbeit zusätzlich.
  • Durch die russische Besetzung ukrainischen Territoriums seien Leser abhandengekommen. Außerdem würden Bücher, vor allem zu historischen Themen, von russischer Seite als "extremistische" Literatur betrachtet. In den von Russland besetzten Gebieten werde der Zugang zu Information unterbunden; im Zuge des Propaganda-Kriegs würden ukrainische Bücher aus Bibliotheken entfernt.

Trotz aller Herausforderungen konnte Vivat im vergangenen Jahr 360 Titel drucken; die Rechte an 40 Titeln konnten in 15 Länder verkauft werden. Mehr als 90 Buchrechte konnte Orlova einkaufen. Sie bat ihre europäischen Kolleg:innen, Bücher aus ihren Sprachen zu übersetzen und in den ukrainischen Buchmarkt zu bringen.

Die unbekannte Ukraine

Die Verlegerin und Autorin Marjana Savka (Lion Publishing), zugleich Mitglied im ukrainischen PEN, warf in ihrem Beitrag noch eine andere Perspektive auf das vom Krieg geschüttelte Land: das fehlende Verständnis dessen, was die Ukraine ausmacht. Das sei nicht nur bei Wladimir Putin zu erleben, sondern bei vielen Menschen aus aller Welt. "Wir haben die wahre Geschichte unseres Landes und unserer Kultur nicht richtig erzählt", sagte sie. "Für viele ist die Ukraine immer noch ein imaginäres Land." Erst 2016 sei das Ukrainische Buchinstitut gegründet worden, und noch lange nach der Unabhängigkeit hätten auf den Regalen der Buchhandlungen mehr Bücher in russischer als in ukrainischer Sprache gestanden.