»Ich denke in Bildern. Dabei helfen mir Gedichte. Sie sind wie Bojen im Meer. Ich schwimme zu ihnen, von einer zur anderen; dazwischen, ohne sie, bin ich verloren. Sie sind die Haltepunkte, wo sich in der unendlichen Weite etwas zusammenballt aus dem interstellaren Staub, ein bisschen Materie im Abgrund der Antimaterie. Manchmal verdichten sich die Trümmer von Gewesenem zu neuen Worten und Zusammenhängen.«
Vergangenheit, Mythologie, Literatur und letztlich Kunst – gleich im ersten Teil seiner Rede fasst Anselm Kiefer zusammen, was er als Voraussetzung für sein kreatives Schaffen sieht. Zur Kunst – was jede Kuratorin und jeder Kurator bestätigen wird – gehört aber auch der Raum, in dem sie wirkt. In diesem Fall, der Friedenspreisrede, ist es die Frankfurter Paulskirche.
»Wir sind hier in einem leeren Raum. Was einmal eine Kirche war, mit den Wänden einer Kirche, dem Gestühl, dem Altar, der Kanzel, hat nur dieses Podium hinterlassen, mit den drei Stufen. Dieser Raum hier, die Paulskirche, ein Zylinder, der in die Tiefe geht – ich empfinde ihn wie den Einstieg in ein Bergwerk. Ich sehe die Farben der Sedimente, das Schwarz-Violett der Nelly Sachs, die hier im Jahr 1965 stand, das Ultraviolett von Ernst Bloch, vor nunmehr 41 Jahren.«
Dieses »Bergwerk« der Erinnerungen an den Friedenspreis und seine Preisträger:innen ist aber bei Kiefer nicht erst jetzt, sondern schon viel früher entstanden: in dem leeren Raum, in dem er aufgewachsen ist – das kleine Dorf ohne Kino, ohne Theater, ohne Fernseher.
»In diesen leeren Raum fielen die Worte, die noch nicht verbrauchten Sätze der Dichter und Philosophen, Stimmen aus der Paulskirche; durch das Radio konnte ich sie hören, auch wenn ich ihren Sinn anfangs nicht verstand. Noch im Gehör ist mir die zerbrechliche Stimme der Nelly Sachs, die eindringliche Stimme Martin Bubers.
In diesen leeren Raum fielen die Stimmen wie die Tropfen in einer Tropfsteinhöhle, bildeten die Stalaktiten, aus denen ich heute bestehe. Niemand schafft allein, und schon gar nicht ex nihilo. Das Werk entsteht am Schnittpunkt verschiedener Linien. Ich fühle mich diesem besonderen Raum, der Paulskirche, zugehörig, ja ich bestehe aus ihm, bin aus den darin enthaltenen Gedanken gemacht.«
In diesem Sinne kann der leere Raum nicht leer sein. Er ist weder der Nasenstüber des Engels (durch den nach Martin Buber jedes Kind wie eine scheinbar leere Hülle auf die Welt kommt, die sich nun neu füllen kann) noch die Stunde Null, wie das Ende eines Krieges (wie auch das des Zweiten Weltkriegs) gerne beschrieben wird.
Denn Trümmer sind laut Kiefer nicht nur Ende, sondern auch Anfang. Deckt man sie jedoch schamhaft zu, anstatt sie zu versorgen, können die entstandenen Wunden nicht heilen. Diesen Reflex, die Geschichte zu verstecken, anstatt sich mit ihr auseinanderzusetzen, hat Kiefer auch bei der Wiedervereinigung beobachtet.
»Nach dem Zusammenfall der beiden deutschen Staaten kam es zur Wiederholung des Zuschüttens, des Verstopfens von leerem Raum: wieder eine Stunde Null für alles, was sich vierzig Jahre im anderen Teil Deutschlands ereignet hatte. Ich habe damals geschrieben, man solle jetzt alles so lassen, als Museum: die ehemalige DDR als Museum, der real existierende Sozialismus, der an Wochenenden zu besichtigen wäre, mit Verhören an der Grenze, ein Erlebnisurlaub. Der Vorschlag war natürlich nicht programmatisch gemeint, sondern als Aktion, als Spiel mit der Grenze.«
Damit meint Kiefer das in der Gegenwart sichtbare Vergangene, oder die »Provokation«, wie Werner Spies es in seiner Laudatio beschrieben hat. Wir tragen unsere Geschichte in uns, es hilft nichts, sie »schamhaft verdecken« oder verschwinden lassen zu wollen Wir müssen sie immer auch an dem messen, was ist und was sein wird. Dabei helfe die Grenze, die Anselm Kiefer, aufgewachsen am Rhein, bereits als Kind kennengelernt hat.
»Das am anderen Ufer gelegene Land war nicht ein Land unter anderen, es war für das Kind, das da nicht hinüber konnte, ein Versprechen in die Zukunft, eine Hoffnung, es war das Gelobte Land. Heute daran denkend, sind es Wurzeln, die sich an der Schwelle zum unbetretbaren Raum verlieren, dem Raum, der auf wunderbare Weise immer leer ist wegen der Inkongruenz zwischen Wunsch und Erfüllung.«
Diese Erfahrung als ein »Versprechen in die Zukunft« zu begreifen, ist der wahre Kern von Kiefers Kunst. Deswegen nutzt er auch die Vergänglichkeit der von ihm verwendeten Materialien wie Stoff, Erde, verwelkte Blumen in Kombination mit Blei, Glas, Asche, selbst Stacheldraht – Leben und Tod, im Gestern wie im Heute und auch wie im Morgen.
»Es gibt eine besondere Grenze, die Grenze zwischen Kunst und Leben, eine Grenze, die sich oft irrlichternd verschiebt. Aber ohne diese Grenze gibt es keine Kunst. Im Verlauf der Herstellung leiht sich die Kunst das Material vom Leben; und noch im vollendeten Kunstwerk scheinen die Spuren von Leben durch.
Die Distanz zum Leben ist aber zugleich das Wesentliche, die Substanz der Kunst. Dennoch hat das Leben seine Spuren hinterlassen. Und das Kunstwerk ist umso interessanter, je mehr es gezeichnet ist vom Kampf um die Grenze zwischen Kunst und Leben.«