Deutscher Sachbuchpreis: Der Festakt in Hamburg

Wie der rotbunten Kuh „Wolke zwei“ ein Doppelsieg gelang

1. Juni 2023
von Sabine Cronau

Der Deutsche Sachbuchpreis wurde erst zum dritten Mal vergeben – trotzdem dürfte er am 1. Juni in der Hamburger Elbphilharmonie schon jetzt den schönsten und schrägsten Vergleich seiner (hoffentlich noch lange währenden) Geschichte erlebt haben.

Ein Bauernhof im Münsterland

Historiker Ewald Frie wurde im stimmungsvoll beleuchteten Kleinen Saal der „Elphi“ für sein Buch „Ein Hof und elf Geschwister“ (C.H. Beck) ausgezeichnet (mehr dazu hier).

Er erzählt darin ein Stück seiner eigenen Familiengeschichte im Münsterland. In Interviews mit seinen Brüdern und Schwestern, aber auch anhand von Studien und anderer externer Quellen beschreibt er den „stillen Abschied vom bäuerlichen Leben“ – und damit unter anderem den Verlust der plattdeutschen Sprache und vieler handwerklicher Fähigkeiten. Die Kinder sahen ihre Zukunft woanders, in der Stadt, im Studium, in jedem Fall jenseits vom Bauernalltag der Eltern.

 

Der Preisträger mit Vorsteherin Karin Schmidt-Friderichs

Der Doppelsieg 1950 und 2023

Dass er nun für dieses Werk den Deutschen Sachbuchpreis erhalte, sei der zweite Teil eines „Doppelsiegs“, so Frie in seiner Dankesrede, die er, sichtlich bewegt, erst nach einem Moment des Innehaltens beginnen konnte - und die viele seiner Geschwister im Saal mitverfolgten.

  • Der erste Sieg: 1950 wurde „Wolke 2“, die Star-Kuh in der Viehherde seines Vaters, auf einer Landwirtschaftsausstellung in Frankfurt am Main vor 500.000 Zuschauern als rotbunte Siegerkuh prämiert, wie Frie auf der Bühne erzählte.
  • Der zweite Sieg: 2023, mittlerweile als Hauptfigur zwischen zwei Buchdeckel gepresst, gewinne „Wolke 2“ nun vor 500 Zuschauern den Deutschen Sachbuchpreis. Wer sich im Publikum jetzt frage, ob man denn den Preis für eine Kuh allen Ernstes mit der Auszeichnung eines Sachbuchs vergleichen könne, dem sei versichert: „Wenn mein Vater uns heute oben von seiner Wolke aus zuschaut, dann denkt er mit Sicherheit das Gleiche – nur andersherum.“
Sichtlich bewegt: Ewald Frie bei der Preisverleihung

Sichtlich bewegt: Ewald Frie bei der Preisverleihung

Kultur ist ein ungeheuer wandelbares Phänomen.

Ewald Frie, Gewinner des Deutschen Sachbuchpreises 2023

"Innovative Geschichtsschreibung"

Genau darum geht es für den Historiker in seinem Buch – wie eine Sozialform (das bäuerliche Leben) innerhalb von zwei Generationen so untergehen konnte, dass Menschen aus heutiger Perspektive nicht einmal mehr ihre zentralen Werte nachvollziehen können. Frie verbreitet dabei jedoch weder Nostalgie noch Wehmut. Er will vor allem eine „Umstiegs- und Aufstiegsgeschichte“, von Dynamik und Veränderung erzählen und zeigen: „Kultur ist ungeheuer wandelbares Phänomen.“ Mit Blick auf die aktuellen Disruptionen auch eine tröstliche Nachricht.

Die Jury lobt Ewald Fries‘ historisches Sachbuch als tief, aber gleichzeitig als zugänglich und unterhaltsam: „Diese Alltagsgeschichte geht von leicht zu übersehenden Details aus und entwickelt große Gedanken. Ein inspirierendes Beispiel für innovative Geschichtsschreibung."

Jeanne Rubner (l.) und Katja Gasser

Jeanne Rubner (l.) und Katja Gasser

Viele Sachbücher zum Krieg in der Ukraine

Nicht weniger inspirierend: Die sieben Mitbewerber:innen beim Deutschen Sachbuchpreis (mehr dazu hier). Alle wurden in kleinen Video-Interviews vorgestellt, zwischendurch befragte Moderatorin Katja Gasser die Vorsitzende der Jury, Jeanne Rubner (Technische Universität München) zum aktuellen Sachbuchjahrgang.

Bei den 206 eingereichten Titeln hätten vor allem zwei Themenkomplexe dominiert, zog Rubner Bilanz: zum einen der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, zum anderen Sachbücher rund um die Themen Identität und Universalimus. Was Rubner vermisst hat: Bücher zum Klimawandel und anderen naturwissenschaftlichen Fragestellungen, die auf dem Sachbuchmarkt des anglo-amerikanischen Raums eine deutlich wichtigere Rolle spielen würden.

Die nominierten Autor:innen in Zitaten

Plattform für die Themen der Zeit

Was ein gutes Sachbuch ausmacht: Damit beschäftigten sich die Juroren in kurzen Filmen zum Auftakt der Preisverleihung. Eine Definition: Gute Sachbücher gehörten zu den Grundlagen für eine demokratische Gesellschaft, so der Publizist Stefan Koldehoff: „Fakten zwischen zwei Buchdeckeln brauchen wir im Moment dringender denn je.“

Vergeben wird der Deutsche Sachbuchpreis von der Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins - als Pendant zum Deutschen Buchpreis, der den besten Roman des Jahres kürt. Für Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins, hat sich der Preis schon im dritten Jahr, trotz des schwierigen Starts in der Corona-Krise, als wichtige Plattform für die Themen der Zeit etabliert.

Die nominierten Sachbücher heben uns aus dem Nachrichtenstrom der Zeit auf eine Metaebene des Denkens – und im Idealfall auch des Handelns.

Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins

Buchpaket als "schöne Geste"

Die acht Finalisten seien „ein Panoptikum aktueller Fragestellungen – und zwar nicht nur derjenigen, die in aller Munde sind“, so die Vorsteherin. Sich durch die Shortlist zu lesen, helfe dabei, blinde Flecken zu entfernen und Bildungslücken zu schließen: „Die acht Sachbücher heben uns aus dem Nachrichtenstrom der Zeit auf eine Metaebene des Denkens – und im Idealfall auch des Handelns“.

Die Finalist:innen können sich übrigens über ein Lektüre-Paket mit sämtlichen Shortlist-Titeln freuen, für die eigene Lektüre. Ewald Frie lobte dieses Buchgeschenk als „schöne Geste“ und verband damit einen Appell ans Publikum: Alle ausgewählten Sachbücher zu lesen, „das können Sie auch machen.“

Das Schlusswort gehörte Moderatorin Katja Gasser, die zum Finale aus dem Sachbuch von Hanno Sauer, „Moral“, zitierte. Der Philosoph hat sein Buch nämlich all jenen gewidmet, „von denen ich jemals gelernt habe“.

Gute Sachbücher gehören zu den Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft.

Stefan Koldehoff, Publizist und Jury-Mitglied

Bücher, aus denen man lernen kann, liefert der Sachbuchpreis jedes Jahr aufs Neue. Ob die Preisverleihung 2024 wieder in der „Elphi“ gefeiert wird? Eine Einladung liegt schon mal auf dem Tisch, beim Festakt ausgesprochen von Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank, 2. Bürgermeisterin der Hansestadt. Im vergangenen Jahr war der Deutsche Sachbuchpreis in Berlin zu Gast, im neuen Humboldt-Forum.

Wer den Live-Stream aus Hamburg verpasst hat:
Hier geht es zur Aufzeichnung.