Alfred-Kerr-Preis: Dankesrede von Wolfgang Matz

Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen

21. März 2024
von Börsenblatt

Ob als Kritiker oder als Lektor: Man kann einem Buch nur gerecht werden, wenn man seine eigenen Ansprüche ernst nimmt. Wolfgang Matz wird in seiner Dankesrede für den Alfred-Kerr-Preis programmatisch.

Porträt Wolfgang Matz vor einer grünen Holzwand

Wolfgang Matz

Man beginnt niemals früh genug, sich der Kritik auszusetzen. Stellen Sie sich einen nicht mehr ganz jungen Autor vor; nach etlichen Jahren beendet er ein großes Manuskript, das erste, das er wirklich für gelungen hält. Nun bittet er zwei Freunde, ebenfalls Literaten, zu sich nach Hause. Die Spielregel: Er liest vor, die beiden hören schweigend zu und fällen ihr kritisches Urteil erst, nachdem sie das ganze Werk gehört haben. Gesagt, getan: Das Werk ist lang, vier Tage, insgesamt zweiunddreißig Stunden, jeweils von Mittag bis nachmittags um vier und von acht bis nachts um zwölf, dauert es bis zum letzten Wort der Versuchung des heiligen Antonius. Was dann geschieht, berichtet einer der beiden Freunde: „Nach der letzten Lesung, gegen Mitternacht, schlug Flaubert mit der Faust auf den Tisch und sagte: ‚Jetzt zu uns dreien, sagt mir offen, was ihr davon haltet.‘“ Die Antwort kommt von dem zweiten Freund: „‚Wir denken, du solltest das ins Feuer werfen und nie wieder davon reden.‘ Flaubert sprang auf und stieß einen Entsetzensschrei aus.“

Zweifellos, es ist besser, von der Kritik gelobt zu werden. Noch besser ist es allerdings, kompetent und intelligent gelobt zu werden. Es gibt jedoch eine weitere Steigerung: nämlich von Andreas Isenschmid gelobt zu werden. Isenschmid ist seit Jahrzehnten ein so souveräner, gebildeter und eleganter Kritiker, dass ich nur für die Großzügigkeit danken kann, mit der er hier einen Kollegen bedenkt. Was kann es Schöneres geben? Doch mit diesem Dank sind wir unvermittelt bereits im Thema: Was macht es denn aus, dass uns dieser Kritiker mehr beeindruckt als ein anderer? Was macht Lob oder Tadel beim einen gewichtiger als beim andren? Drehen wir‘s einfach um: Man erkennt den guten Kritiker schon daran, dass uns sein Lob besonders erfreut, sein Tadel noch stärker schmerzt.

Dem Dank muss ich hinzufügen, dass es mich nach wie vor ein klein wenig erstaunt, hier zu stehen. Sehen Sie darin bitte keine Bescheidenheit, sondern nur ein biographisches Faktum. Fünfundzwanzig Jahre lang, ich verrate kein Geheimnis, stand ich als Verlagsmensch sozusagen auf der anderen Seite der kritischen Barriere; habe mit meinen Autoren auf das Urteil der Rezensenten gewartet, mich mit ihnen gefreut oder geärgert, den Rezensenten rechtgegeben oder widersprochen. Der Lektor hat gegenüber dem Kritiker einen Vorteil: Er kennt das Buch, um das es geht, sehr viel besser, bis ins Detail, denn er hat vielleicht Wochen oder Monate mit dem Autor daran gefeilt. Und wenn er nicht zu den Helden gehört, die prinzipiell alles großartig finden, was über den eigenen Lektorenschreibtisch geht, dann kennt er Stärken wie Schwächen ziemlich genau, und manchmal staunt er über Lob mindestens ebenso wie über Tadel. Doch der Vorteil nützt ihm leider gar nichts, denn im Augenblick der Rezension ist der Kritiker in einer strategisch einzigartigen Position: Er fällt sein Urteil öffentlich, und dagegen hat weder der Lektor noch der Autor eine Stimme. Wenn ich einen schlechten Tag hatte, und den gab’s mehr als einmal, habe ich dem Rezensenten per Post meine eigene Meinung gesagt, aber das hat mich nicht beliebter gemacht und dem Buch nichts genutzt.

Da ich aber naturgemäß nicht zu denen gehört habe, die prinzipiell alles großartig finden, was über den eigenen Lektorenschreibtisch geht, habe ich solche Briefe dann doch nicht übertrieben oft geschrieben, stattdessen allerdings immer wieder Rezensionen, mit denen ich ein Buch der sogenannten Konkurrenz gelobt habe: Claude Simon und Pierre Michon, Nathalie Sarraute, Edna St. Vincent Millay, Anne Weber, Simone Weil, Hannah Arendt; die Namen zeigen, tatsächlich ging es gar nicht um Konkurrenz, sondern um verwandtschaftliche Bewunderung für echte verlegerische Begeisterung und Urteilskraft. So blieb ich in Übung und konnte nach der Verlagszeit hinüberwechseln ins andere Fach. Nun hat der Börsenverein mir nicht nur diesen Preis zugesprochen, sondern zudem fürs Börsenblatt eine sehr gute Frage gestellt: Habe ich als Kritiker etwas gelernt vom Lektor? Ja, und ob, sehr viel! Als erstes: Der Kritiker soll seine strategisch einzigartige Position nicht ausnutzen und er soll auch nicht immer gleich so tun, als verstehe er noch mehr vom Thema oder vom Schreiben oder vom Übersetzen als sein wehrloses Gegenüber; das kommt zwar vor, aber nicht oft. Und gerade wenn das Urteil negativ ausfällt, sollte der Kritiker substantielle Argumente und Belege präsentieren. Aber er sollte auch nicht auf Teufel komm raus und stolz die zweieinhalb Fehler aufzählen, die er zufällig entdeckt hat; Korrektur ist nicht Aufgabe der Literaturkritik. Worum es in der Kritik geht, ist die Substanz des Textes. Das heißt, Schwächen, Fehler sind dann Sache des Kritikers, wenn sie durchgängig zur Substanz des Textes gehören, dann muss der Finger drauf. Und, nota bene, die Substanz des Textes ist weit mehr als Inhalt; nichts langweiliger als die um sich greifende Manie, bei Romanen die sogenannte Handlung lang und breit nachzuerzählen, denn was sagt die schon? Ob einer ohne Mutters Kuss nicht schlafen kann, ob einer statt sieben Tage sieben Jahre im Sanatorium bleibt, ob die Ehefrau mit einem Notariatsgehilfen, Grafen oder Major das Weite sucht, na schön. Über den literarischen Rang entscheidet nichts davon, nichts.

Worum es in der Kritik geht, ist die Substanz des Textes. Das heißt, Schwächen, Fehler sind dann Sache des Kritikers, wenn sie durchgängig zur Substanz des Textes gehören, dann muss der Finger drauf.

Wolfgang Matz

Es gibt aber etwas noch Wichtigeres, Zentrales, was der Lektor gemeinsam hat mit dem Kritiker. Beide sehen vor sich einen Text, den sie beurteilen sollen; der eine will ein ungedrucktes Manuskript gegebenenfalls verbessern helfen; der andere sagen, was das gedruckte Buch nun eigentlich ist und ob‘s am Ende etwas taugt. Woher nehmen sie ihre Kriterien? Natürlich aus der eigenen Vorstellung von Sprache, Poesie, Literatur. Ich muss wissen, was ich tue; wissen, warum ich das tue, was ich tue; wissen, was Literatur für mich ist, was ich von ihr will; wissen, wofür ich arbeite und mich einsetze und: wogegen. Doch ich muss das Fernrohr auch umdrehen: Muss mich konsequent einlassen auf das, was der Autor will, dessen Manuskript ich vor mir habe. Nichts ist sinnloser, als dass der Lektor dem Autor mitteilt, er selbst hätte an Stelle des Autors ein anderes Buch geschrieben oder dieses hier anders. Die Kriterien, die der Lektor braucht, um dem Manuskript tatsächlich helfen zu können, müssen jetzt aus dem Manuskript selber kommen, aus dem, was der Autor will, aus seiner Vorstellung von Sprache, Poesie, Literatur. Und wenn diese Vorstellung mit der des Lektors prinzipiell kollidiert – dann sollten die beiden sich voneinander verabschieden.

Und genau an diesem Punkt unterscheiden sich Lektor und Kritiker nur wenig. Auch als Kritiker brauche ich meine Kriterien, meine eigene Vorstellung von Sprache, Poesie, Literatur, muss wissen, was Literatur für mich ist, was ich von ihr will; wofür ich mich einsetze und wogegen. Schaue ich aber lesend in das gedruckte Buch, dann muss ich mich konsequent einlassen auf das, was der Autor will. Nichts sinnloser, als dass der Kritiker dem Autor ins Stammbuch schreibt, er selbst hätte an seiner Stelle ein anderes Buch geschrieben oder dieses hier anders. Sie alle kennen die vielzitierte Frage von Lichtenberg: „Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?“ Nein, es ist nicht immer das Buch, aber auch nicht immer der Kopf. Ich möchte mich auf keine Zahlenspekulation einlassen, woran es häufiger liegt, aber eins ist sicher: So, wie ich für manche Bücher genau der richtige Kritiker bin, bin ich für andere definitiv der falsche. Bloße Geschmacksfragen haben in der Kritik keinen Platz, und salopp gesagt, es gibt Bücher, mit denen der Kritiker einfach nichts anzufangen weiß, und dann wird er auch keine sinnvolle Kritik schreiben. Die Kriterien, die er braucht, um dem Buch gerecht zu werden, müssen jetzt aus dem Buch selber kommen, aus dem, was der Autor will, aus seiner Vorstellung von Sprache, Poesie, Literatur. Und wenn die Vorstellung des Kritikers mit der des Autors prinzipiell kollidiert – dann könnte es vielleicht besser sein, der Kritiker würde sich von dem Buch verabschieden.

Die Kriterien, die der Kritiker braucht, um dem Buch gerecht zu werden, müssen jetzt aus dem Buch selber kommen, aus dem, was der Autor will, aus seiner Vorstellung von Sprache, Poesie, Literatur.

Wolfgang Matz

Der von mir hochgeschätzte Walter Benjamin schrieb in seiner Technik des Kritikers in dreizehn Thesen: „Echte Polemik nimmt sich ein Buch so liebevoll vor, wie ein Kannibale sich einen Säugling zurüstet.“ Ich spüre einen leisen Zweifel, ob das tatsächlich immer stimmt, aber eines stimmt ganz sicher: In die allgemeine fernsehtaugliche gute Laune kann der Kritiker nicht einstimmen. Nein, im Gegenteil, er soll sich auf seine Arbeit konzentrieren; im Lesesessel, am Schreibtisch, unter der Lampe; er hat früher nicht alles großartig gefunden und wird das auch jetzt nicht. Es mag gut sein, dass es auch die anderen Formate gibt: sogenannte Events, unterhaltsame Gesprächsrunden, aufgeregte Preisverleihungen coram publico. Die Kritik hat mit alldem nichts zu tun; anstatt zum Beispiel die Short- und Longlists dieser Welt zu kommentieren, als spräche aus ihnen der literarische Weltgeist, muss sie ihr eigenes Urteil fällen, die eigenen Kriterien verteidigen, und hoffentlich nicht auf ganz verlorenem Posten.

Bei Benjamins liebevoller These fällt mir ein, dass ich Ihnen noch das Ergebnis jenes kritischen Tribunals schuldig bin, welches die Freunde Maxime du Camp und Louis Bouilhet über den Debütanten Gustave Flaubert abhielten, denn das ähnelte tatsächlich ein wenig jener Mahlzeit des kannibalischen Polemikers. Also: „‚Wir denken, du solltest das ins Feuer werfen und nie wieder davon reden.‘ Flaubert sprang auf und stieß einen Entsetzensschrei aus … Wir sagten zu Flaubert: ‚Dein Sujet war verschwommen, du hast es durch deine Art, es zu behandeln, noch verschwommener gemacht ...’ Flaubert sträubte sich; er las einige Passagen noch einmal vor und sagte: ‚Aber es ist schön!’ Wir antworteten: ‚Ja, schön ist es, das bestreiten wir nicht, aber es ist eine innere Schönheit, die außerhalb des Buches zu gar nichts taugt. Ein Buch ist ein Ganzes, bei dem jeder Teil der Gesamtheit dient, und nicht eine Zusammenstellung von Sätzen, die, wie gut auch immer sie gemacht sind, nur einzeln für sich einen Wert haben.’ Flaubert rief aus: ‚Aber der Stil?’ Wir antworteten: ‚Stil und Rhetorik sind zwei verschiedene Dinge, die du verwechselt hast; erinnere dich an das Rezept von La Bruyère: Wenn ihr sagen wollt: Es regnet, dann sagt: Es regnet.’“ Ja, das ist nun wirklich ein kritisches Gebot, dem ich mich immer anschließen werde. Flaubert hat auf die Freunde gehört, denn ihr Rat war gut. Die beiden jungen Herren hatten genau erkannt, was er wollte; erkannt, was ihm misslungen war und auch warum; und vor allem: sie hatten erkannt, welche grandiosen Möglichkeiten noch drinsteckten in seinem Genie, seinen Ideen, seiner Sprache, man musste sie nur hervorlocken. Flaubert hat dann Madame Bovary geschrieben, aber das ist eine andere Geschichte. Seine Freunde waren also gute Kritiker (und nebenbei: gute Lektoren), und auch erfolgreiche. Ich nehme sie mir weiter zum Vorbild.