Kolumne von Patrick Baumgärtel

Die Sachbuchlektorin: Das Trüffelschwein der Themen

7. Dezember 2021
von Börsenblatt

Die Arbeit von Belletristik- und Sachbuchlektorinnen trennen Welten, insbesondere nach Feierabend, so Patrick Baumgärtel. In seiner Kolumne erzählt der Lektor vom beruflichen Kern, vom Wesen der Sachbuchlektorin. dem Trüffelschwein der Themen. 

Belletristik- und Sachbuchlektorinnen* trennen Welten, insbesondere nach Sonnenuntergang. Während die Belletristiklektorin sich die Nächte mit der Lektüre (und dem Lektorat) ausschweifender Familienromane um die Ohren schlägt, liegt die Sachbuchlektorin mit dem Tablet in ihrem Bett und liest Zeitung, überdenkt mögliche Projekte und vergleicht diese mit dem Profil potenzieller Autorinnen. So variieren auch die Ansprüche an die beiden: Von der Sachbuchlektorin wird ein medial geschultes, logisches und analytisches Denken verlangt, von der Belletristiklektorin ein sprachästhetisches Urteil, das gleichwohl dem sensus communis (Immanuel Kant) unterliegt.

Die Lektorin des gesellschaftlichen Sachbuchs ist ein Trüffelschwein der Themen, die die aktuelle Welt bedeuten. Mit Betonung auf aktuell. Sie hat die Nase am Wind, wenn es darum geht, Entwicklungen, Tendenzen und Neues zu entdecken. Sie sieht sofort, welche Gesichter und Namen im weiten Autorenrund in Zukunft von Relevanz sein könnten, wofür sie stehen und wie sie in ihr Programm passen – oder auch nicht. Insofern hat sie viel mit der Chefredakteurin eines wöchentlich oder monatlich erscheinenden Magazins gemeinsam, nur dass diese sich auch kleinteiligen, vereinzelten und ausschnitthaften Themen auf reduziertem Raum widmen kann. Sachbücher bedürfen dagegen immer einer gewissen Tiefe, Ambivalenz und Komplexität, damit man sie im Buchformat zu diskutieren vermag. Während die Belletristiklektorin mit der Autorin monate-, wenn nicht jahrelang an einem Manuskript feilen kann, um den perfekten Sound zu entwickeln, kann die Sachbuchlektorin auch Bücher im Schnellschuss-Verfahren auf den Markt werfen. Dennoch zeichnet das Sachbuch Reife und zeitliche Distanz zum Geschehen aus.

Die Sachbuchlektorin ist auch nicht in so einer komfortablen Lage wie die Universitätsprofessorin, die sich wochenlang in ein Thema einlesen kann. Sie ist eine rege Zeitungs-, Blog- und Magazinleserin. Sie ist eine sucker for social media. Sie verfolgt die wichtigen Debatten, auch international. Und sie reagiert schnell, wenn eine Autorin einen Artikel zu einem Thema verfasst hat, das sie sich schon immer als Buchgegenstand gewünscht hat. Dann geht die Lektorin auf die Autorin zu – und nicht umgekehrt. Die Sachbuchlektorin sucht sich die Autorin zum Thema – die Belletristiklektorin wenn überhaupt das Thema zur Autorin.

Die Sachbuchlektorin kennt die wichtigsten Journalistinnen der Republik in ihrem Bereich und folgt ihren Arbeiten. Sie trägt ein ganzes Adressbuch an Namen im Kopf, und ihr wirkliches Adressbuch beziehungsweise Smartphone ist mit Namen und Nummern ebenfalls gut gefüllt. Diese Kontakte sind ihr größter Schatz, denn Fremden öffnet man nun einmal weniger gern die Tür als guten Bekannten.

Verfolgt die Lektorin eine Agenda? Ja. Sie dient einem Verlag und damit einem Medium, das einen gesellschaftlichen und politischen Einfluss ausübt, so wie jedes Buch seine je eigene Position im ethischen Spektrum einnimmt. Selbst wenn sie sich allein wissenschaftlichen Büchern widmen sollte, vertritt sie ein aufklärerisches Projekt. Stärker noch als die Belletristiklektorin positioniert sie sich mit jedem Buch, das sie begleitet.

Doch sobald man auf diese Weise die beiden idealtypischen Wesen der Sachbuch- und der Belletristiklektorin entworfen hat, wird man auch schon wieder von der bunten Wirklichkeit und ihren Grauzonen eingeholt und muss sich eingestehen: Die strikte Unterscheidung in Sach- und Vorstellungswelt, die sich in den beiden Genres manifestiert, gibt es so gar nicht. Vielmehr begegnen der Leserschaft Sachbuchautorinnen, die autobiografisch schreiben sowie schöngeistige Literatinnen, die die Grenze zum Dokumentarischen abtasten. Jede Menge Arbeit für die Schriftstellerinnen, die gemeinhin nicht schreiben, sondern lesen – die Lektorinnen, nicht nur nach Sonnenuntergang.

*Da die meisten Menschen in der Buchbranche Frauen sind, verwende ich hier generalisierend das generische Femininum.

 

Patrick Baumgärtel

Nach einer Promotion über den Autor W.G. Sebald an der Humboldt-Universität zu Berlin sowie der Arbeit bei der Literaturagentur S.J. Greenburger (New York) und C.H.Beck (München) gründete Dr. Patrick Baumgärtel 2009 die Full-Service-Literaturagentur Schoneburg in Berlin. Seit 2013 leitet er das Lesefestival Krimimarathon Berlin-Brandenburg. Seit 2018 ist er Sachbuchlektor in der Berliner Eulenspiegel Verlagsgruppe.