Die Sonntagsfrage

Ist der Literaturbetrieb familienfeindlich?

20. Juni 2021
von Börsenblatt

Eltern sind auch im Literaturbetrieb aus vielen Strukturen ausgeschlossen, finden die Redakteur*innen des Blogs Other Writers Need to Concentrate. Sie fordern u.a. Stipendien für Autor*innen, die sie als Mütter und Väter auch tatsächlich annehmen können. 

„Das hättest du doch vorher wissen können“, ist eine häufige Reaktion auf die Klagen von gestressten Eltern. Das stimmt schon, vieles hätte man wissen können. Die schlaflosen Nächte. Die ständigen Infekte. Die Schwierigkeit, auf die bisherige Stelle zurückzukehren; die Unmöglichkeit, Teilzeit auszuhandeln. All die Bücher, die man nicht mehr lesen, die Lesungen, zu denen man nicht mehr gehen, die Dinge, die man nachmittags und abends nicht mehr erledigen kann, und dazu die freundlichen Erinnerungen per E-Mail – zumal in einer Branche, die gern mit der Leidenschaft und der dazugehörigen ständigen Verfügbarkeit argumentiert. Aber warum eigentlich müssen sich Eltern, deren Tätigkeit die Basis unserer Gesellschaft darstellt, den Forderungen dieser Gesellschaft beugen? Ginge das nicht auch andersherum?

Welche*r Autor*in kann mit einem Schulkind für mehrere Monate in ein fremdes Dorf reisen, um einen Roman zu beenden? Wo bleiben die Kinder einer alleinerziehenden Mutter während ihrer Lesereisen? Wer bezahlt das Zimmer für sich allein, das im besten Fall nicht Teil der Familienwohnung ist?

Schreibende Eltern leben oft prekärer als ihre Kolleg*innen ohne Kinder

Als Autor*innen beschäftigen wir uns hauptsächlich mit den Produktionsbedingungen von Literatur, und wir haben auf die Frage, ob der Literaturbetrieb familienfreundlich sei, eine klare Antwort: Nein. Das liegt unter anderem an Absagen wie dieser: Ein Künstlerhaus schrieb auf die Anfrage, ob man zum Aufenthaltsstipendium mit Familie anreisen dürfe: „And sorry to tell you that we do not accept little kids as it really troubles other writers who need to concentrate.“

Aufenthalte in Künstlerhäusern sind jedoch ein wichtiges Puzzleteil vieler Autor*innenexistenzen. Ja, es gibt sie – die Burgen, Türme und Schlösser, in denen Autor*innen sich gemeinsam mit ihren Kindern aufhalten dürfen, und das ist ein wichtiges Zeichen. Aber: Welche*r Autor*in kann mit einem Schulkind für mehrere Monate in ein fremdes Dorf reisen, um einen Roman zu beenden? Wo bleiben die Kinder einer alleinerziehenden Mutter während ihrer Lesereisen? Wer bezahlt das Zimmer für sich allein, das im besten Fall nicht Teil der Familienwohnung ist? Schreibende Eltern leben oft prekärer als ihre Kolleg*innen ohne Kinder. Kitabeiträge, Kleidung, Lernmaterialien, kurz: die Bedürfnisse der Kinder verlangen nach zusätzlichem Einkommen, gleichzeitig lässt die Sorgearbeit die wöchentliche Arbeitszeit schrumpfen. Wenn man das nicht gewusst hat, dann hat man es doch zumindest geahnt. Na und?

Schreibende Eltern brauchen Stipendien, die sie zu Hause absolvieren können

Im Februar 2020 haben 20 Autor*innen auf unsere Initiative hin begonnen, über das Leben und Schreiben mit Kindern zu bloggen, der Titel unseres Blogs ist der entmutigenden Absage entliehen: Nach anderthalb Jahren schreiben für Other Writers Need to Concentrate fast 50 Autor*innen. Jede*r erzählt auf eigene Weise von den komplexen Verbindungen zwischen Autor*innenschaft und Elternschaft, jede*r hat eigene Bedürfnisse – eine schreibende Mutter im Wechselmodell andere als ein in Vollzeit schreibender Vater, Autor*innenpaare andere als Eltern von drei oder mehr Kindern. Was jedoch alle eint, ist der Wunsch, dass das Schreiben und die Sorge für eine Familie nicht länger als unvereinbare Tätigkeiten wahrgenommen werden.

Autor*innen sind keine Genies, die in absoluter Einsamkeit ihre Werke erschaffen, und die Strukturen, die auf diesem Mythos beruhen, müssen sich ändern: Schreibende Eltern brauchen Stipendien, die sie zu Hause absolvieren können – Arbeitsstipendien, die ausschließlich für Autor*innen mit Kindern ausgeschrieben werden und die gern höher dotiert sein können als gemeinhin üblich. Sie brauchen in ihren Wohnorten Writers‘ Rooms, in denen sie ohne Ablenkungen schreiben können. Wenn sie über ihre Familien schreiben, wollen sie nicht hören, das sei „privat“ oder „allzu vertraut“. Und wenn sie aus ihren Büchern lesen, müssen digitale Veranstaltungen so selbstverständlich sein, wie sie es in den vergangenen Monaten waren.

Autor*innen sind keine Genies, die in absoluter Einsamkeit ihre Werke erschaffen, und die Strukturen, die auf diesem Mythos beruhen, müssen sich ändern. 

Fürsorgende sind aus dem Literaturbetrieb ausgeschlossen

Mit diesen Forderungen sind wir nicht allein: Es ist sicher kein Zufall, dass sich nahezu zeitgleich zu unserer Website mit Writing with Care/Rage ein Kollektiv mit ganz ähnlichem Ansatz gegründet hat. Es ist kein Zufall, dass der diesjährige Branchentreff Literatur in der Lettrétage unter dem Thema Vor|care|ungen stattfindet. Es ist kein Zufall, dass auch die bildende Kunst fordert: Mehr Mütter für die Kunst! Und es ist kein Zufall, dass vor wenigen Wochen 13 Initiativen aus allen künstlerischen Sparten einen offenen Brief formulierten, der unter anderem gendergerechte Fördermodelle und kinderfreundliche Residenzen fordert. Fürsorge ist die Basis unserer Gesellschaft, und Fürsorgende sind auch im Literaturbetrieb aus vielen Strukturen ausgeschlossen. Es ist Zeit, diese Strukturen für sie zu öffnen – egal, ob sie es vorher wussten oder nicht.

Die Redakteur*innen des Blogs Other Writers Need to Concentrate

Katharina Bendixen, geboren 1981, lebt als Autorin mit ihrer Familie in Leipzig. Sie schreibt Bücher für Kinder (Loewe), Jugendliche (mixtvision) und Erwachsene (poetenladen). Neben ihrer Arbeit für Other Writers Need to Concentrate engagiert sie sich als Vorstandsmitglied des Sächsischen Literaturrats e.V.

David Blum, geboren 1983, lebt mit seiner Familie in Leipzig. Er ist Lektor bei Zweitausendeins und schreibt Reiseführer (Reise Know-How, E. A. Seemann).

Barbara Peveling, geboren 1974, lebt als Autorin mit ihrer Familie in Paris und Köln. Im Frühjahr hat sie zusammen mit Nikola Richter den Sammelband „Kinderkriegen. Reproduktion Reloaded“ (Edition Nautilus) herausgegeben.

Sibylla Vričić Hausmann, geboren 1979, lebt mit ihrer Familie in Leipzig. Sie schreibt Lyrik, Essays und Prosa. Neben der schriftstellerischen Tätigkeit arbeitet sie als Lektorin und Dozentin für Kreatives Schreiben. Außerdem moderiert sie kulturelle Veranstaltungen, u.a. als Mitglied der Lesereihe „niemerlang“.

Website Other Writers Need to Concentrate

Die Website Other Writers Need to Concentrate beschäftigt sich seit Februar 2020 mit den komplexen Verbindungen zwischen Autor*innenschaft und Elternschaft. Rund 50 Autor*innen bloggen über das Leben und Schreiben mit Kindern; daneben gibt es u.a. Lektürehinweise zum Thema Elternschaft und künstlerischem Prozess, eine Liste mit familienfreundlichen Stipendien, digitale Lesungen und Interviews mit Personen aus dem Literaturbetrieb. Im Januar 2021 wurde in Leipzig der gleichnamige Verein gegründet.