Finalist*innen im Literaturhaus

Deutscher Buchpreis: "Ich musste nichts hinzu erfinden"

28. September 2020
von Stefan Hauck

Vier Finalist*innen des Deutschen Buchpreises waren am Sonntag im Literaturhaus in Frankfurt am Main zu Gast: Dorothee Elmiger, Deniz Ohde, Bov Bjerg, Anne Weber gaben Einblicke in ihre Arbeit.

Statt eines wie üblich rappelvollen Saals konnte Hauke Hückstädt als Leiter des Literaturhauses in Frankfurt am Main gestern Nachmittag nur 50 geladene Zuschauer*innen live zur Vorstellung der Deutschen Buchpreis-Finalist*innen begrüßen: der Tribut an die Corona-Hygiene-Bedingungen.

Dafür wurde die Veranstaltung als Livestream gesendet: Vor den Monitoren fanden sich nach Angaben des Literaturhauses rund 700 Zuschauer ein. Aufgrund der Pandemie konnten auch die Shortlist-Nominierten Christine Wunnicke und Thomas Hettche nicht nach Frankfurt reisen, so dass die Kritiker*innen Miriam Zeh und Christoph Schröder vor Publikum und Kamera mit vier Finalist*innen des Deutschen Buchpreises sprachen, den Hückstädt als "die wirkungsmächtigste Auszeichnung für deutschsprachige Literatur seit 15 Jahren" bezeichnete.
Mit der Veranstaltung präsentierten das Literaturhaus Frankfurt und das Kulturamt Frankfurt am Main bereits zum 13. Mal die Nominierten der Shortlist, in Kooperation mit der Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, die den Deutschen Buchpreis vergibt.

"Ich stecke so tief im erzählenden Ich"

Den Auftakt gab die Schweizer Schriftstellerin Dorothee Elmiger, die aus ihrem Roman "Aus der Zuckerfabrik" las. Christoph Schröder machte auf die unendlich vielen Denkfiguren, Spuren und Biografien aufmerksam: "Gab es denn eine Urszene?" Elmiger erzählte, dass sie vor Jahren einen Dokumentarfilm gesehen habe, mit einem "Porträt eines Schweizer Lottokönigs, dessen neu gesammeltes und wieder verlorenes Hab und Gut versteigert wird: Diesen Moment umkreise ich in der Szene, die ich gerade gelesen habe" Elmiger beschrieb ihre Arbeitsweise; "das erzählende Ich ist sehr präsent, ich stecke so tief mit Haut und Haaren in diesem erzählenden Ich. Es ist sehr nah bei mir, obwohl ich die Sprache dieses Ichs erfinden musste." Das Fragmentarische, Unabgeschlossene von Elmigers Erzählform bilde den neuen Realismus unserer Gegenwart ab, hob Schröder hervor und bezog sich dabei auf die Kritikerin Insa Wilke. "Ich setze mich immer an den Schreibtisch mit dem Wunsch, eine kohärente Erzählform zu finden", meinte Elmiger.

"Ich habe nicht mehr die Deutungshoheit"

Miriam Zeh vom Deutschlandfunk lobte, wie stark Deniz Ohde in ihrem Debütroman "Streulicht" den Zeitgeist der 1990er Jahre eingefangen habe – die in Leipzig lebende Schriftstellerin hatte als nächste Finalistin die frisch desinfizierten Plätze der Literaturhausbühne betreten. Ob die Beobachtungen in punkto Schule heute noch genauso seien? "Ich habe keinen Kontakt zu Teenagern von heute, deswegen kann ich schwer beurteilen, ob das heute noch genauso ist. Ich wollte kein Pamphlet gegen das Schulsystem schreiben und musste mich an den nüchternen Erzählton erst herantasten – die wütenden Textpassagen habe ich dann rausgelassen, die sind in meinem Computer geparkt …" Dem Begriff Sozialscham widersprach Ohde: "Für mich fühlt es sich nicht so an, als ob sich die Protagonistin schämt – allerdings habe ich als Autorin inzwischen nicht mehr die Deutungshoheit über den Text." Ohde zeichnete ein beeindruckendes Vater-Porträt und berichtete, dass sie eigene zentrale Erfahrungen – etwa des Scheiterns, das Gymnasium verlassen zu haben und das spätere Nachholen des Abendgymnasiums – verarbeitet habe. Gern hätte man mehr von Ohde erfahren, allein Zeh nahm viel Interviewzeit für sich in Anspruch.

"Keiner ist nur depressiv"

Bov Bjerg las eine Szene aus "Serpentinen", und Christoph Schröder wies darauf hin, dass der Roman trotz eines düsteren Grundtons – Urgroßvater, Großvater, Vater des Erzählers haben sich allesamt das Leben genommen: "ertränkt, erschossen, erhängt" - immer wieder heitere Passagen habe. "Es gibt keinen Menschen, der nur depressiv und suizidgefährdet ist – ich wollte keinen Roman schreiben, der nur aus Düsterkeit besteht", sagte Bjerg. "Wie die Absicht des Vaters von vornherein ist, ob er in etwas hineinschlittert, das ist zunächst einmal offen." Auch die Struktur des Textes sei nicht so gegliedert, dass er düstere Passagen mit heiteren Passagen habe kontrastieren wollen – es gibt langsame und schnellere, kürzere und längere Passagen, und die richtigen für eine Lesung herauszusuchen, sei in diesem Roman schwer. Denn wenn die längere Textpassage etwa die düstere sei, habe der Zuhörer rasch den Eindruck, der gesamte Roman sei so, und umgekehrt. Befragt nach dem Handlungsort, bekannte Bjerg: "Ich mag die Schwäbische Alb sehr. Sie ist abwechslungsreich", Das habe er beim Wandern wieder festgestellt. Christoph Schröder merkte an, dass der Erzähler trotz seines Aufstiegs durch Bildung (er ist Soziologe, Professor in Berlin) und obwohl er sich in akademischen Kreisen bewegt, dort doch ein Fremder ist. "Viele kommen nie dort an, wo sie hingeraten sind, nachdem sie ihr Herkunftsmilieu verlassen haben", so Bjerg, "sie bleiben vom Milieu her heimatlos."

"Ich musste nichts hinzu erfinden"

"Ich bin mir sicher, dass ich mein Buch nicht 'ein Heldinnenepos' genannt hätte, wenn meine Heldin ein Mann gewesen wäre", meinte Anne Weber in Bezug auf Miriam Zehs Frage zum Titel "Annette, ein Heldinnenepos". Weber, aktuelle Stadtschreiberin von Bergen, berichtete, wie sie die Protagonistin Anne Beaumanoir als alte Frau in einem kleinen Ort in Frankreich getroffen und diese ihre Lebensgeschichte erzählt habe. Im Epos gibt es viele verfremdende Elemente, "wir sehen als Leserinnen vieles mit einem distanzierenden Abstand. Es ist nicht ihr Leben, es mein Blick auf ihr Leben." Im Zweiten Weltkrieg ist sie in der Résistance, rettet jüdischen Kindern das Leben, engagiert sich später für die algerische Befreiungsfront. "Jeder sagt, es ist gut, sich in der Résistance engagiert zu haben, aber es wurden auch Bomben gelegt in Cafés und Straßenbahnen, es wurden eben auch Babys zerfetzt und dann muss man sich schon Fragen stellen." Auch wenn heute noch in Algerien dieselben Leute, dieselben Clans an der Macht seien wie nach der Unabhängigkeit, müsse man sich fragen, ob und wie sich das Engagement gelohnt habe.

Die ungewöhnliche Form des Epos beruhe auf der Ausgangsfrage "Darf ich alles mit der Geschichte dieser alten Frau tun?" "Nein. Den Figuren Sätze, Dialoge in den Mund zu legen, das konnte ich mir nicht vorstellen, aber ich bin auch keine Biografin oder Sachbuchautorin. Dann fiel mir ein, dass es ja die alte Form des Heldenepos gibt. Ich musste nichts hinzu erfinden." Ob wir Helden brauchten, um uns besser zu fühlen?, wollte Zeh wissen: "Ich bin mir nicht sicher, ob ich den Mut aufgebracht hätte in solchen entscheidenden Situationen", entgegnete Weber. "Man wird beim Lesen doch recht unsicher."

Über den Deutschen Buchpreis

Der Deutsche Buchpreis wird von der Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels vergeben. Förderer des Deutschen Buchpreises ist die Deutsche Bank Stiftung, weitere Partner sind die Frankfurter Buchmesse und die Stadt Frankfurt am Main. Die Deutsche Welle unterstützt den Deutschen Buchpreis bei der Medienarbeit im In- und Ausland.

Der Jury gehören neben Hanna Engelmeier an: Katharina Borchardt (Literaturredakteurin, SWR2), David Hugendick (Literaturredakteur, Zeit Online), Chris Möller (Literaturvermittlerin bei Kabeljau & Dorsch, Berlin), Maria-Christina Piwowarski (Buchhandlung ocelot, Berlin), Felix Stephan (Literaturredakteur, Süddeutsche Zeitung), Denise Zumbrunnen (Buchhandlung Never Stop Reading, Zürich).

Erst am Abend der Preisverleihung erfahren die sechs Autor*innen, an wen von ihnen der Deutsche Buchpreis geht. Der oder die Preisträger*in erhält ein Preisgeld von 25.000 Euro; die fünf Finalist*innen erhalten jeweils 2.500 Euro. Die Preisverleihung findet am 12. Oktober 2020 zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse als Livesendung aus dem Kaisersaal des Frankfurter Römers statt.