Lieblingsbuchhandlung

Die Worte, der Schmerz und die Bücher

6. Mai 2012
von Börsenblatt

Andreas Maier verdankt der Bindernagelsche Buchhandlung in Friedberg alles, sogar den Kontakt zu Suhrkamp, sagt er: Ein wunderbares Bekenntnis zu seiner Lieblingsbuchhandlung.

Andreas Maier 2012 in der Bindernagelschen Buchhandlung 

Wenn die Wetterau das Zentrum der Welt ist, die ich bin, dann ist die Bindernagelsche Buchhandlung in Friedberg in der Wetterau das Zentrum dieses Zentrums. Im Grunde stammt alles von dort. Meine Buchhandlung, mein Leben. 
Der Inhaber, Christian Herrmann, ist eigentlich Schauspieler. Als ich jung war, ging ich zu seinen Lesungen hin. Hölderlin, Tieck. Zum ersten Mal hörte ich Poesie. Zum ersten Mal hörte ich jemanden sprechen. Urbilder. In meinem Elternhaus hingen ja keine Gainsboroughs.
Im Sommer 1983 verliebte ich mich in die Tochter des Buchhändlers. Meine erste große Liebe. Wieder ein Urbild. Nun kam ich selbst in die Familie Herrmann hinein und erlebte dort eine komplett neue Welt. Überall war plötzlich Kunst. Der ältere Bruder, Mathias, hatte zusammen mit zwei Freunden eine Theatertruppe. Sie spielten »Andorra« von Max Frisch. Einmal suchten sie zu Hause bei den Herrmanns Musik für das Vorspiel aus, da hörte ich zum ersten Mal Vivaldis »Winter«. Es war ein schlagendes Erlebnis, denn ich begriff sofort, dass das die viel härtere Musik als zum Beispiel Motörhead war. Motörhead war bis dahin eher meine Welt gewesen.
Natürlich spielten sie alle irgendwelche klassischen Musikinstrumente. Ich hatte bis dahin nur Schlagzeug gespielt. Später spielte ich Bach. Das habe ich denen eigentlich auch zu verdanken.Übrigens wurden sie alle berühmt, die drei Wetterauer Theaterleute, bei denen ich damals manchmal hinten auf dem Mofa mitfahren durfte (ja, damals gab es noch Mofas). Mathias Herrmann wurde Schauspieler und spielte irgendwann auch einmal den Anwalt in »Ein Fall für zwei«, der andere, Thomas Heinze, hatte mit »Allein unter Frauen« und solchen Filmen riesige Erfolge, und der dritte, der Dramatiker René Pollesch, schreibt heute gefühlte 365 Stücke im Jahr, die überall besprochen werden. René Pollesch trug damals immer so ein rustikales Ledermäntelchen und hatte schon sehr früh einen Bart.

Eigentlich bin ich Autor der Bin­der­nagelschen Buchhandlung. Alles, was ich bin, kommt letztlich von ihr.

Meine Liebe zur Tochter endete mit der notwendigen Portion Schmerz. Schmerz ist sowieso die beste, vielleicht die einzige Voraussetzung fürs Schreiben. Nicht, dass man über den Schmerz schreiben sollte. Das bringt meistens gar nichts. Aber er sollte immer schön halbsublimiert im Hintergrund rumquengeln, dieser Schmerz. Dann wird es meistens recht gut. So wurde die Tochter zur Muse meines Lebens. Heute leitet sie die Buchhandlung. Nach dem Ende mit ihr war ich richtig abgehalftert. Ich ging weiterhin in die Bindernagelsche Buchhandlung, kaufte mir Dostojewski, lief abgerissen herum und trug ein schwarzes Mäntelchen. Einmal sagte eine Verkäuferin in der Bindernagelschen Buchhandlung zu mir: Du siehst aus wie eine Dostojewski-Gestalt. Auch dieses Kapitel meines Lebens blieb also der Bindernagelschen Buchhandlung vorbehalten: das närrische Nachäffen von Literatur im eigenen Leben. Alkohol unterstützt meistens die Dostojewski-Wirkung. Damals ging ich viel in Kneipen. Die große Verzweiflung. Mitten in der Wetterau. 1984 / 85.

Dass ich 15 Jahre später von der Bindernagelschen Buchhandlung aus dann auch mein erstes Telefongespräch mit Suhrkamp führen würde und ohne die Buchhandlung gar nicht in den Verlag meiner früheren Jugendträume gekommen wäre, ist nur noch eine kleine Schlusspointe am Rand. Eigentlich bin ich Autor der Bin­der­nagelschen Buchhandlung. Alles, was ich bin, kommt letztlich von ihr. Die Worte, der Schmerz und am Ende die Bücher. Meine Buchhandlung, mein Leben.