"Wie wollen wir leben?" (6)

"Entschleunigung wird gesucht und auch gebraucht"

27. Januar 2021
von Börsenblatt

Nach den Erfahrungen der vergangenen Monate ist die Frage "Wie wollen wir leben?" drängender denn je. Welche Denkanstöße dazu in Frühjahrsnovitäten zu finden sind, zeigen wir in einer Folge, die auch Anregung für einen Büchertisch sein kann. Die heutige Antwort kommt von Tobias Esch, Professor am Institut für Integrative Gesundheitsversorgung und Gesundheitsförderung der Universität Witten/Herdecke (Goldmann Verlag).

Der folgende Textauszug stammt aus Tobias Eschs "Mehr Nichts! Warum wir weniger vom Mehr brauchen", das im April bei Goldmann erscheint.

"Fast scheint es, als hätten sich möglichst viele gesellschaftlich und 'systemrelevante' Bereiche verabredet, um nahezu gleichzeitig am gleichen Problem zu erkranken: Eine Polarität zwischen dem Möglichen und dem Machbaren, auch zwischen einem objektivierbaren (notwendigen?) Wachstum im Außen und der subjektiven Freiheit des Einzelnen darin – inklusive einer Emanzipation oder bewussten Abkehr von genau jenem Wachstumsdiktat –, sehen wir (neben der Medizin) in zahlreichen volkswirtschaftlichen Entwicklungen, ebenso im Konsumverhalten einer immer größer werdenden Zahl von Menschen:
Entschleunigung und Rückzug anstelle von ungebremstem und mechanischem Wachstum,
Slow Food statt Fast Food,
Regionalität statt globale Märkte,
Konsumbegrenzung statt XXL,
Wiederverwertung statt Wegwerfmentalität,
Klimaneutralität und Nachhaltigkeit statt Ressourcenverschwendung,
Gemeinwohlökonomie statt Raubtierkapitalismus.

Zugleich und in Analogie erkennen wir ähnliche Trends im religiösen Kontext, wo beispielsweise die Zahl der Konfessi-onslosen steigt, gerade in den urbanen Räumen und Ballungsgebieten. […]

Phänomene von 'McMindfulness' oder 'Mindfulness-to-go', wie man sie provokativ bezeichnen könnte, finden wir ebenso in neuen geisteswissenschaftlichen Strömungen oder mancher Gegenwartsphilosophie, in Teilen der Psychologie, wo nicht selten unter Verwendung von Begriffen wie 'Bewusstsein' oder 'Integralität' oder im Versprechen eines 'Transhumanismus' die Optimierung, letztlich die Ökonomisierung von Geist und Bewusstsein in Aussicht gestellt werden. Die schöne neue Welt von morgen? […]

Auch die Digitalisierung reiht sich hier problemlos ein, wo einerseits Informationsdemokratie, Transparenz, Grenzenlosig-keit und Vernetzung alles möglich erscheinen lassen, nicht weniger als einen vermeintlich 'besseren' Menschen oder offenere Gesellschaften. Andererseits sind Überforderung durch fehlende Informationshygiene, eine Einschränkung von Intimität und Privatheit oder die Erosion ganzer Demokratien (etwa durch ständige Falschmeldungen im Netz) zu einem manifesten Problem und zu einer Bedrohung unserer Zukunft geworden. […] Ähnliches gilt auch für die gegenwärtige Klimadebatte, die uns dringend zur Entschleunigung mahnt, dabei das Problem durch technischen Fortschritt, ein schnelleres Aufrüsten sowie mehr Nachhaltigkeitsindustrien in den Griff bekommen möchte. Ist das nicht irgendwie paradox? Gerade in diesem Sektor ist eine atemberaubende Beschleunigung auszumachen, eine Tendenz zum 'Höher, Schneller, Weiter' mit großer Anziehungskraft und enormen Zuwachsraten. […]

Immer wieder treffen wir auf das gleiche Muster, auf sich scheinbar polar gegenüberstehende Bewegungen: Messbare Größen zeigen an, dass sich 'alles' zu beschleunigen scheint. Menschen wünschen sich jedoch das genaue Gegenteil vom vermeintlich Gegenwärtigen, träumen mehr von einer alternativen, einer ganz anderen Welt. Entschleunigung wird gesucht und auch gebraucht. […] Letztlich geht es um das Aufdecken von möglichen Schnittmengen und gemeinsamen Mustern, die ein größeres Bild erkennen lassen, eine offensichtliche Bewegung hin zu weniger statt mehr."