Autor wollte sich verhaften lassen

Gerichtsmedizinerin entdeckt unbekannte Fallada-Texte

18. Januar 2021
von Stefan Hauck

Fast wie ein Krimi: Eine Gerichtsmedizinerin stößt auf ein psychiatrisches Gutachten über Hans Fallada, der 1926 nach einer Irrfahrt durch Deutschland unbedingt ins Gefängnis wollte. Und auf Fallada-Erzählungen. Lektorin Nele Holdack erläutert im Interview die spannenden Hintergründe.

Wie stößt eine Gerichtsmedizinerin ausgerechnet auf einen literarischen Schatz? Purer Zufall?

Keineswegs. Die Direktorin des Instituts für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein hat gezielt ein Gutachten von Ernst Ziemke gesucht, dem ersten Institutsdirektor. Er war einer der prägendsten deutschsprachigen Gerichtsmediziner zu Beginn des 20. Jahrhunderts, und Johanna Preuß-Wössner forscht über ihn. Ziemke hatte auch ein forensisch-psychiatrisches Gutachten über Hans Fallada erstellt, das wusste sie, um dessen Strafmündigkeit bei einem Prozess des Schöffengerichts Kiel 1926 zu prüfen.

Aus welchem Grund wurde Fallada angeklagt?

Fallada hatte sich selbst gestellt. Er war Rendant auf einem holsteinischen Gut und hatte zum wiederholten Male Geld unterschlagen, diesmal mehrere tausend Mark, die er dann auf einer rauschhaften Fahrt quer durch Deutschland verprasste. Fallada irrte fast eine Woche lang durch Deutschland, von Kiel nach Hamburg, weiter nach Berlin und über München und Leipzig zurück in die Hauptstadt, teilweise sogar mit dem Flugzeug. Körperlich am Ende, versuchte er dann, sich bei der Polizeiwache am Bahnhof Zoo festnehmen zu lassen, aber die Beamten dort schenkten ihm keinen Glauben. Erst auf dem Präsidium am Alexanderplatz erreichte er sein Ziel und wurde schließlich nach Kiel in Untersuchungshaft überstellt.

Warum wollte Fallada denn unbedingt in Haft?

Er war damals schon alkohol- und morphiumabhängig, und er wollte unbedingt von seiner Sucht loskommen, nicht zuletzt um wieder schreiben zu können. Nur in einer Gefängniszelle, so wusste er, hätte er eine Chance, den Entzug auch zu schaffen.

Befand ihn Ernst Ziemke für strafmündig?

Letzten Endes ja, und Fallada tat seinen Teil dazu bei – er wollte ja in Haft! In Gesprächen setzte sich Ziemke intensiv mit ihm auseinander, befragte aber auch Falladas Schwester und dessen Tante, die Arbeitgeber usw. Johanna Preuß-Wössner war sich sicher, dass Ziemke die Fallada-Akte aufgehoben haben muss, denn Ziemke galt als akribischer Sammler.

Wie wurde sie fündig?

Ein wahrer Glücksfall: Im Institut selbst war schon gründlich aufgeräumt worden, da gab es nichts mehr, aber aus Platzgründen sind vor langen Jahren etliche unkatalogisierte Kisten ins Landesarchiv nach Schleswig ausgelagert worden. Preuß-Wössner hat die Kisten durchgeschaut und Gerichtsakten gefunden – darunter auch die Fallada-Akte aus dem Jahr 1926.

Und was war in der Gerichtsakte?

Eben nicht nur das erhoffte Gutachten, das allein schon eine Fundgrube an neuen biografischen Details ist, sondern auch noch eine kleine literarische Sensation: fünf Erzählungen in Falladas Handschrift! Über eine Journalistin von der "Ostsee-Zeitung" hat die Gerichtsmedizinerin dann mit uns Kontakt aufgenommen. Zusammen mit Peter Walther, der bei uns eine Fallada-Biografie geschrieben und unveröffentlichte Geschichten des Autors herausgegeben hat, habe ich mir die Texte gleich angesehen.

Um welche Art von Texten handelt es sich?

Es sind zwei völlig unbekannte Erzählungen und drei weitere, die postum erst ein einziges Mal und in anderen Textvarianten abgedruckt wurden, alle auf dem gleichen Papier geschrieben. Ob sie in der Kieler Untersuchungshaft entstanden sind oder kurz davor, ist nicht genau zu ermitteln. Fallada hatte jedenfalls darum gebeten, in Haft schreiben zu dürfen, um seine Schulden bezahlen zu können, und das wurde ihm auch gestattet. Inhaltlich markieren sie den Übergang zu seinen großen Romanen, mit denen er bald nach der Gefängnisstrafe Weltruhm erlangen sollte.

Von was handeln die Erzählungen?

Interessanterweise haben gleich drei Erzählungen weibliche Protagonistinnen, eigentlich untypisch für Fallada. Und sie alle handeln vom Verhältnis zwischen Liebe und Trieb, Herrschaft und Macht, ja sogar von Abtreibung und Vergewaltigung, von damals noch tabuisierten Themen. In dieser Hinsicht könnten sie aktueller gar nicht sein. Die anderen beiden Texte greifen das Thema Gefängnis auf. Fallada ist da sehr nah an der literarischen Moderne, am Puls der Zeit, man denke etwa an den Skandal um Schnitzlers "Reigen". Die Geschichten erscheinen am 12. April unter dem Titel "Lilly und ihr Sklave", so der Titel einer der unveröffentlichten Erzählungen.

Ist Fallada eigentlich je von seiner Sucht losgekommen?

Bald nach der über zweijährigen Haft hat er seine Frau Suse kennengelernt, die Schwester eines Abstinenzlers. Sie war für ihn ein großes Glück und immer wieder ein großer Halt. Aber auf produktive, exzessive Schreibphasen folgten stets Rückfälle und Zusammenbrüche - er kam nie von seiner Sucht los, bis er kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs mit gerade einmal 53 Jahren an Herzversagen starb. Da hatte er innerhalb von zwei Jahrzehnten rund zwei Dutzend Bücher geschrieben. Sein Ziel war, jeden Tag mindestens so viel zu schreiben wie am Vortag. Das kann wohl niemand auf Dauer durchhalten.

Nele Holdack ist Lektorin im Aufbau Verlag