Nachruf von Georg Reuchlein

Henning Boëtius ist tot

25. März 2022
von Georg Reuchlein

Der btb Verlag trauert um seinen Autor und langjährigen Weggefährten Henning Boëtius. Er ist am 14. März im Alter von 82 Jahren verstorben. Sein langjähriger Verleger Georg Reuchlein hat einen sehr bewegenden Nachruf auf den "notorischen Freibeuter des Lebens mit literarischem Herz für die Außenseiter" geschrieben. 

Zum ersten Mal persönlich begegnet bin ich Henning Boëtius Mitte der neunziger Jahre. Es war die Vorweihnachtszeit, und wir trafen uns in einem Restaurant in der Münchner Innenstadt; Henning war aus Fulda mit dem ICE angereist. Einige Zeit zuvor hatte sein Entdecker, Förderer und langjähriger Verleger Vito von Eichborn seinen Verlag verkauft, und Henning Boëtius glaubte, einer höchst ungewissen Zukunft entgegensehen zu müssen. Wir arbeiteten damals gerade am Start eines eigenen Hardcoverprogramms bei btb, und da wir bereits einige seiner früheren Bücher als Lizenzausgaben im Taschenbuch veröffentlicht hatten, besprach ich mit Henning, ob er sich vorstellen könne, etwas für unser erstes Programm beizutragen.

Henning war, wie er mir später erzählte, hochnervös angereist, für ihn ging es schließlich darum, eine neue Heimat für seine Bücher zu finden. Und als wir uns nach einem langen, äußerst angeregten und anregenden Gespräch verabschiedeten, hatten wir uns auf einen ersten Vertrag geeinigt, auf den historischen Kriminalroman „Undines Tod“, der im Herbst 1997 bei btb erscheinen sollte. Henning war so erleichtert, dass er im Überschwang der Gefühle - und ich erwähne das, weil es mir so charakteristisch für Hennings ganzes Temperament und Wesen erscheint - auf dem Weg zum Bahnhof am Viktualienmarkt noch einen mannshohen Christbaum kaufte und damit im ICE – samt Umsteigen in Würzburg – zurück nach Fulda reiste. Es war der Beginn einer großartigen und fruchtbaren, jahrzehntelangen Zusammenarbeit, und von da an erschienen Hennings Romane bei btb.

Henning Boëtius ist in der Bandbreite und Eigenwilligkeit seines Schaffens ein Solitär in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.

Henning Boëtius ist in der Bandbreite und Eigenwilligkeit seines Schaffens ein Solitär in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Er war ein Universaltalent, Goldschmied, begnadeter (Blues-)Musiker und Autor zugleich, und ein Universalgelehrter, der in der Literatur, Kulturgeschichte und Philosophie ebenso zuhause war wie in der Mathematik und den Naturwissenschaften.

Bekannt wurde er mit seinen Romanbiographien von Autoren wie Johann Christian Günther, J. M. R. Lenz, Georg Christoph Lichtenberg, Clemens Brentano und Arthur Rimbaud und mit den Romanen um den holländischen Kommissar Piet Hieronymus, einer eigenwilligen Gegenfigur zum Typus des Sherlock-Holmes-artigen Ermittlers, der jeden Fall mit strikter, zielgerichteter Logik löst. Piet Hieronymus dagegen setzt auf „den naiven Kinderblick auf die Verhältnisse“, wie es an einer Stelle in „Joiken“ heißt, auf das absichtslose Eintauchen in einen Fall und das Sich-Treiben-Lassen, bis einem die Aufklärung des Verbrechens intuitiv vor Augen steht: „Denk nicht nach, grübel nicht, sieh dich einfach um. Weißt du, wie man die größten Pilze findet? Indem man geistig weggetreten ist, indem man wie ein Halbblinder durch den Wald stolpert“ („Der Walmann“).

Hennings erfolgreichstes Buch war „Phönix aus Asche“, ein Roman, der auf langen Gesprächen mit seinem Vater Eduard Boëtius beruht, der im Mai 1937 auf der Unglücksfahrt des Luftschiffs „Hindenburg“ als Dritter Offizier an Bord war und die Explosion des Zeppelins bei der Landung im amerikanischen Lakehurst wie durch ein Wunder überlebte. Der SPIEGEL schrieb damals über das Buch, das unter anderem auch in Frankreich, England und den USA erschien: „Penibel recherchiert, erinnert es in seiner Intensität an Michael Ondaatjes ‚Englischen Patienten‘“, und er lobte unter anderem die „Sprache, die dem eleganten Gleiten der Luftschiffe ähnelt“, und die „präzise Phantasie“, mit der Henning Boëtius „die Welt der fliegenden Schiffe und das schaurige Ende ihrer Ära“ schildere.

Sein bedeutendstes Buch aber ist für mich der fast tausendseitige Roman „Der Insulaner“ (2017), an dem Henning gute zehn Jahre arbeitete und der nach „Phönix aus Asche“ und „Der Strandläufer“ den Abschluss einer (semi-)autobiographischen Trilogie darstellt. 2020 erschien der Roman „Der weiße Abgrund“ über die letzten Jahre und das Sterben Heinrich Heines; die Publikation seines letzten Werkes, des Romans „Das chinesische Zimmer“, des letzten Bandes seiner Reihe um den niederländischen Kommissar, Piet Hieronymus, soll er jetzt um wenige Wochen leider nicht mehr erleben.

Seiner traumatischen Erfahrung, als Fremder wahrgenommen zu werden, verdankt sich denn auch sein literarisches Herz für die Außenseiter, die Querköpfe, jene, die sich nicht einfügen wollen in die sozialen Normen und Konventionen einer „philiströsen“ Welt.

Henning Boëtius wurde in der Nähe von Frankfurt geboren und erlebte dort als Kind die Bombennächte des zweiten Weltkriegs. Später zog die Familie auf die Insel Föhr um, in die Heimat seines Vaters. Hier wuchs Henning auf, und der Insel und seinem Vater Eduard, der nach dem Todesflug des „Hindenburg“ ein Leben lang zur See fuhr, verdankt Henning seine tiefe, existentielle Beziehung und Liebe zum Meer. Die abgeschottete Inselwelt war freilich noch in einer anderen Hinsicht prägend: indem sie ihm immer das Gefühl gab, ein Fremder, ein Außenseiter zu bleiben. Henning hat aus dieser Ablehnung für sich eine Stärke geformt, hat, auch wenn ihn gleichzeitig die Sehnsucht nach menschlicher Anerkennung und Zugehörigkeit nie verlassen hat, den Nonkonformismus, das Sich-nicht-Ducken und das Ausbrechen aus vorgeprägten Wegen zu seinem Lebensprinzip gemacht.

Der traumatischen Erfahrung, als Fremder wahrgenommen, behandelt und latent ausgegrenzt zu werden, verdankt sich denn auch sein literarisches Herz für die Außenseiter, die Querköpfe, jene, die sich nicht einfügen wollen in die sozialen Normen und Konventionen einer „philiströsen“ Welt – für die vermeintlich Unzeitgemäßen und Nicht-Salonfähigen, die „Misfits“ und Freibeuternaturen, die „Insulaner“ und „Fremden“ eben, die auf Ablehnung stoßen, nur weil sie anders scheinen und in ihrem Anderssein ihrer Umwelt den Spiegel vorhalten könnten.

Dem gängigen Literaturbetrieb mit seinen ungeschriebenen Regeln und Erwartungen hat sich Henning Boëtius, der in den sechziger Jahren in Frankfurt bei Theodor W. Adorno studierte und nach der Promotion zunächst beim Freien Deutschen Hochstift die Kritische Ausgabe der Werke Clemens Brentanos betreute, als notorischer Freibeuter des Lebens und der Literatur nie einordnen oder gar unterordnen wollen und können. Für ihn war Freiheit, im Leben wie in der Kunst, eine unabdingbare Notwendigkeit; er musste sich immer treu bleiben, wollte sich nie verraten und hat sich dabei, allen Widerständen und Rückschlägen zum Trotz, doch nie aufgegeben und sich immer wieder neu erfunden.

Dem gängigen Literaturbetrieb hat sich Henning Boëtius als notorischer Freibeuter des Lebens und der Literatur nie einordnen oder gar unterordnen wollen und können. Für ihn war Freiheit, im Leben wie in der Kunst, eine unabdingbare Notwendigkeit.

Am Montag, dem 14. März 2022, ist Henning Boëtius, für mich vollkommen unerwartet, verstorben; er wurde 82 Jahre alt. Seinem Roman „Der weiße Abgrund“ hat er als Motto ein Zitat aus einem Brief von Heinrich Heine an seinen Verleger Julius Campe vorangestellt: „Das holdselige Bewußtsein, ein schönes Leben geführt zu haben, erfüllt meine Seele selbst in dieser kummervollen Zeit, wird mich auch hoffentlich in den letzten Stunden bis an den weißen Abgrund begleiten. Unter uns gesagt, dieser letztere ist das wenigst Furchtbare, das Sterben ist etwas Schauderhaftes, nicht der Tod, wenn es überhaupt einen Tod giebt. Der Tod ist vielleicht der letzte Aberglaube.“

In Hennings letzten Büchern ist der „weiße Abgrund“, sind das Sterben und der Tod, allgegenwärtig: nicht nur in dem Heinrich-Heine-Roman, sondern ebenso in „Der Insulaner“ und in „Das chinesische Zimmer“. Ebenso präsent aber ist in allen diesen Werken ein unerschütterlicher Lebenswille, ein Sich-Niemals-Aufgeben, was auch immer einem widerfährt. Diese genuine Lebenskraft und dieser ungebrochene Lebenswille haben Henning, dem es das Schicksal oftmals nicht leicht gemacht hat, bis zuletzt ausgezeichnet: Er war für mich immer auch ein „Überlebenskünstler“. Umso tragischer und schmerzlicher erscheint jetzt sein plötzlicher Tod. Wenn etwas Trost spenden kann, dann sind es vielleicht die letzten Zeilen aus seinem Roman „Der Insulaner“. Der Protagonist hat gerade eine schwere Hirnoperation glücklich überstanden und fährt, als er das Krankenhaus wieder verlassen darf, als erstes ans Meer:

„Das Meer war glatt. Kleine Wellen liefen auf dem Flutsaum aus. Er zog die Schuhe aus und ging ins Wasser. Es war wohltuend kühl. (…) Als er zurück war, zog er sich aus bis auf die Unterhose und legte sich bäuchlings in den warmen Sand. Wie einst zog er ihn mit ausgebreiteten Armen an sich, Myriaden von Sandkörnern, die einen Hügel bildeten vor seiner Brust. Jedes einzelne davon war ein Augenblick seines Lebens. Er würde sie alle mitnehmen über den Styx, denn sie klebten an seiner Haut.“

Diese genuine Lebenskraft und dieser ungebrochene Lebenswille haben Henning, dem es das Schicksal oftmals nicht leicht gemacht hat, bis zuletzt ausgezeichnet.

Traueranzeige Henning Boëtius