Dieses unbefangene Aufeinander-Zugehen zeichnete den am 16. Juni verstorbenen Klaus Doderer auch als Lehrenden aus: Mit Kreide hielt er auf der Tafel die wesentlichen Punkte kompliziertester Sachverhalte fest, er verstand sie herunterzubrechen, ganz der Volksschullehrer, als der er seine berufliche Laufbahn begonnen hatte, bevor er 1963 an der Frankfurter Goethe-Universität das Institut für Jugendbuchforschung gründete, weltweit das erste seiner Art. Er ermunterte seine Studentinnen und Studenten zu Eigeninitiative – wo andere Professoren verlangten, erstmal zwölf Sekundarwerke zu lesen, bevor man sich zu einer Sache äußerte, meinte Doderer: "Wenn noch keiner geforscht hat: wunderbar! Dann sind Sie der erste!!" Noch unbekanntes Terrain zu erforschen, zu kartieren, die weißen Flecken kleiner werden zu lassen, Wissen zu sammeln, zu bündeln, netzwerken – das war seine Leidenschaft. Und ja, wir waren auch stolz, Doderer-Schüler zu sein.
Das Sich-Auseinandersetzen mit Literatur war für Klaus mit gesellschaftspolitischer Aufklärung verbunden; er forderte den Zugang zum Wissen für alle, ungeachtet seiner Herkunft und sozialer Möglichkeiten, und er sah darin auch einen Baustein, um die Welt ein Stück liberaler, offener zu machen. Die fortwährende Mahnung, selbst zu denken, selbst Schlüsse zu ziehen, anderen nicht auf den Leim zu gehen, das war auch den bitteren Erfahrungen mit der NS-Ideologie geschuldet. Da etwas entgegenzusetzen, das bewegte ihn bis zuletzt; mit Sorge beobachtete er Verharmlosungstendenzen. Überwältigt von grausamen Erinnerungen etwa an die Euthanasieaktionen der Nazis, kamen ihm durchaus im kleinen Kreis Tränen, deren er sich nicht schämte – diese Menschlichkeit schätzten seine Studenten. Klaus verbog sich nie, immer war er authentisch.
Ich bereichere Ihren Aspekt der Lebensklugheit von Klaus Doderer um eine Begegnung, die vor einigen Jahren im Hotel Vier Jahreszeiten (Vivaldi) in Leipzig stattfand.
Mein inzwischen erwachsener Sohn begleitete mich damals zur Buchmesse, weil er Zeit hatte. Warum hatte er Zeit? Er hatte die Schule abgebrochen ...
Eines Morgens setzte sich Herr Doderer zu uns an den Tisch und freute sich, dass ein junger Mann mit seiner Mutter zur Buchmesse fuhr. Ohne Scheu erzählte ihm mein Sohn, warum er das mache. Ich traute meinen Ohren kaum, Herr Doderer hörte aufmerksam zu. Dann erzählte er meinem Sohn von einer Erfahrung während seiner Kriegsgefangenschaft, die sein Leben verändern sollte. Und, um es kurz zu machen, auch das meines Sohnes.
Im Herbst desselben Jahres begann er wieder zur Schule zu gehen, holte seinen Schulabschluss nach und absolvierte ein Studium. Heute jobbt er hin und wieder bei mir in der Buchhandlung. Über jene Frühstücksszene in Leipzig haben wir noch oft gesprochen.
Danke, Klaus Doderer, für Ihre Lebensklugheit und alles andere, was ich von Ihnen gehört und gelesen habe.