Interview mit Rainer Moritz

"Mich hat es schon immer gereizt, mich in andere Rollen hineinzufühlen"

8. Februar 2024
von Stefan Hauck

Rainer Moritz, Chef des Hamburger Literaturhauses, ist auch als Autor produktiv - im Oktober hat er einen Blick hinter die Kulissen der Buchbranche geworfen, im März erscheinen ein Roman und literarische Anekdoten. Ein Interview über fehlende Bindestriche, Schriftsteller, tollwütige Blutwürste und die Liebe zu Paris.

Porträt von Rainer Moritz vor neutralem Hintergrund

Rainer Moritz

Sie sind ungemein produktiv, machen Veranstaltungen und Lesungen im Hamburger Literaturhaus oder werden zu solchen quer durch die Republik eingeladen – und schreiben auch noch rund drei Bücher im Jahr. Ist der Austausch mit den kreativen Köpfen derart befruchtend?
Ich bin in der Tat in einem ständigen Austausch, irgendwo gibt es immer eine neue Idee – das macht diese Branche so spannend. Dazu kommen mehr als 30 Jahre Berufserfahrung, in denen ich vieles beobachtet und erfahren habe; da kann ich aus dem Vollen schöpfen.  Was ich in "Das Buch zum Buch" in einem ABC von Adventure-Writing bis Zwiebelfisch festgehalten habe, ist der Versuch, die Leserinnen und Leser kurzweilig hinter die Kulissen des Literaturbetriebs blicken zu lassen.

 

Sie sind ein genauer Beobachter und erhellen in "Das Buch zum Buch" Details, ob das die Pose von Autoren auf Fotos betrifft oder das falsche Koppeln von Nomen. Wie schmal ist der Grat zwischen Belehren, Fun Fact und Unterhalten?
Berufsbedingt fallen mir etwa fehlende Bindestriche ebenso auf wie falsch gesetzte. Und wenn man so ein Phänomen einmal erkannt hat, sieht man überall sofort weitere Beispiele wie Ölleckschlauch oder Golf-Platz, da fällt das Sammeln leicht. Vielleicht mahne ich da manchmal oberlehrhaft das allzu Offensichtliche an, aber ich versuche das auf eine Art, die vergnüglich unterhält, wie mir viele Leser bestätigen.

 

Welche Zielgruppe haben Sie als Leserinnen und Leser im Visier – und testen sie bei Ihren Lesungen?
Eine, die sich mit Literatur beschäftigt, im weitesten Sinne. Letztlich gibt es bei meinen Texten eine Doppeladressiertheit: Die Insider sagen: Das hat er gut beobachtet, genauso ist es!, und die den Literaturbetrieb von außen betrachten, freuen sich, durchs Schlüsselloch gucken zu können. Ich komme bei Lesungen viel herum, auch in kleine Orte, da sind oft die engagiertesten Buchhandlungen. Und lese mal diese Textauswahl, mal jene und merke, wie sie ankommt. Fast immer lese ich "Bretzel- und Buchpreis" und sehe, wie verblüfft die Zuhörer sind: Eine Bretzel kostete 1988 40 Pfennig, heute gibt es fast nirgendwo mehr eine unter einem Euro. Ein 300-seitiger Hardcoverroman war 2000 für 39,90 DM zu haben und hat bis vor kurzem nur 24 Euro gekostet. Da wird jedem klar, dass die Preise für Bücher sich kaum verändert haben, das fängt erst jetzt an.

 

Im März erscheint bei Oktopus "Vielleicht die letzte Liebe", und es ist nicht Ihr erster Roman …
Ich wollte am liebsten immer das machen, worauf ich große Lust hatte, auch beim Schreiben. Vor 20 Jahren habe ich bei Piper "Ich Wirtschaftswunderkind" über die 60er und 70er Jahre mit Scheiblettenkäse, Horten, Hertie und Capri-Fischern geschrieben. Ich habe auch viel zu Schlagern publiziert. Ich möchte einfach vieles ausprobieren, auch das Schreiben von Romanen.

 

In denen oft Frauen im Mittelpunkt stehen – wie leicht können Sie sich in Ihre Protagonistinnen hineinversetzen?
Mich hat es schon immer gereizt, mich in andere Rollen hineinzufühlen und zu -denken. Manches ist beobachtet, manches reine Phantasie. Zu meinen Lesungen kommen 70 bis 80 Prozent Frauen, die sich gut unterhalten fühlen, und einige sagen hinterher, wie gut sie diese oder jene Frauenfigur getroffen fanden. Da denke ich, dass ich so verkehrt nicht liege. Aber im aktuellen Roman ist der Held ein Weinhändler.

 

Der eine junge Fotografin trifft …
Ja, dieser Bernard Vautrot hört auf mit seinem Laden am Montmartre, er ist von der Welt überfordert und zieht zu seiner Schwester in den Pariser Osten, die gegenüber dem großen Friedhof Père-Lachaise wohnt. Also jeden Tag geht er auf den Friedhof und macht sich mit dem Tod vertraut, bis er auf die junge Aurèlie mit ihrer Kamera trifft und …

 

Stopp, nicht spoilern! An dieser Stelle lassen wir die Leser mit dem Romantitel "Vielleicht die letzte Liebe" allein. Dürfen Sie eigentlich an den Titeln mitbestimmen?
Verleger Daniel Kampa ist ein Meister der Umschlaggestaltung und Titelfindung. Ursprünglich war der Père-Lachaise im Titel, dann haben wir hin und her jongliert … Ja, ich darf beim Titel mitbestimmen, und den jetzigen finde ich gelungen.

 

Warum spielt die französische Hauptstadt so eine große Rolle in Ihren Büchern, ob in Romanen oder in Sachbüchern wie "Mit Proust durch Paris"?
Ich war mit 16 zum ersten Mal in Paris, als Begleiter von Austauschschülern, ich war zum ersten Mal in meinem Leben in einem Restaurant am Jardin du Luxembourg, ich hab diese Stadt aufgesogen … Das bleibt irgendwie. Ich bin immer wieder in Paris, teile mit zwei Bekannten eine ganz kleine Wohnung am Montmartre, und dadurch kenne ich die Stadt als Bewohner ganz anders, als wenn ich in einem Hotel wohnen würde. Ich bin näher am Leben der Einheimischen.

 

Kommen wir noch ganz kurz zu "Unbekannte Seiten. Kuriose Literaturgeschichte(n)", die am 20. März als Taschenbuchausgabe erscheinen. In der Anekdote, in der Bettina von Arnim Christiane von Goethe "eine wahnsinnige Blutwurst" nennt, hätte ich geschworen, Bettine hätte von der "tollwütigen Blutwurst" gesprochen.
Es gibt von fast jeder Anekdote Variationen. Ich habe sie in eine erzählerische Form gebracht, und mir ging es darum, dass der Kern der Geschichte stimmen muss. Eine habe ich sogar selbst erlebt, als ich Siegfried Lenz nach Sylt gefahren habe und ein wenig zu flott auf den Straßen gebraust bin, worauf er rief: "Eigentlich wollte ich die Erzählung, die ich letzte Woche begonnen habe, noch zu Ende bringen!!"

 

Welche darunter ist Ihre Lieblingsanekdote?
Hm. Eigentlich die von Anna Seghers, die sich 1951 am Ostseestrand von Ahrenshoop hüllenlos sonnt und lediglich ihr Gesicht mit einer Ausgabe des "Neuen Deutschland" schützt. Der im weißen Leinenanzug vorbeispazierende Kulturminister Johannes R. Becher erzürnt sich im Vorbeigehen ob der schamlosen nackten Dame und ruft "Schämen Sie sich nicht, Sie alte Sau?" – worauf die Grande-Dame der DDR-Literatur die Zeitung wegnimmt, ihn ansieht … und Becher Luft holt und so tut, als habe er nie etwas gesagt … Als Anna Seghers wenige Wochen darauf in der Berliner Staatsoper der Nationalpreis verliehen wird, spricht er Seghers von der Bühne mit "Meine liebe Anna …" an – worauf die aus der ersten Reihe zischt: "Für dich immer noch die alte Sau!"