Jugendbuchverlage

Sind die Maßnahmen zur Leseförderung richtig adressiert?

15. Juni 2023
von Stefan Hauck

Eine Studie zum Käuferverhalten der 10- bis 19-Jährigen, andere Wege in der Leseförderung, KI und viele Impulse mehr waren Themen bei der Hauptversammlung der Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen avj. In den Debatten wurde deutlich, dass sich in den vergangenen Monaten einiges bewegt hat.

Willkommen und Abschied: Barbara Müller ist seit 1. Juni avj-Geschäftsführerin, avj-Geschäftsstellenleiterin Laura Simanjuntak hört zum 30. Juni auf, ebenso Volontärin Annika Nasel (von links)

Für gewöhnlich sind Rechenschaftsberichte eine unvermeidliche Pflichtübung, der die Mitglieder geduldig zuhören, um den Vorstand anschließend zu entlasten. Anders bei der Jahreshauptversammlung der Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen am 14. Juni in Frankfurt am Main: Da wuchs mit jeder Aktion, über die Vorsitzender Bernd Herzog (Frech Verlag) berichtete, das Erstaunen, welche Fülle von Impulsen er und sein Team (Franziska Hauffe (Klett Kinderbuch), Kristy Koth (Edition bi:libri), Barbara Thieme (DK) und Tomas Rensing (Coppenrath)) angestoßen und umgesetzt hatten. "Unglaublich, wie viele Teller Ihr gleichzeitig in der Luft gehalten habt und noch haltet", fasste Thienemann-Verlegerin Bärbel Dorweiler die Anerkennung als Bild zusammen, und Kristy Koth bekannte, dass da auch ein Limit erreicht sei – "aber es gab von Euch so viel Unterstützung nicht zuletzt in den AGs, die uns einfach motiviert hat." Wiederholt wurde im Verlauf der Versammlung die Leistung des Vorstands gelobt, umso mehr, da er wegen der fast kompletten Neubesetzung vor einem Jahr einzig auf die Erfahrungen von Beirat Tomas Rensing zurückgreifen konnte.

Das Kaufverhalten der 10- bis 19-Jährigen

Eines der angegangenen Projekte ist die Marktforschungsstudie 2023: Die Mitglieder hatten im vergangenen Jahr den Vorstand beauftragt, zehn Jahre nach der Studie zum Käuferverhalten im Jugendbuchmarkt (2013) erneut eine Untersuchung in Auftrag zu geben. Nach einer Analyse aktueller Daten aus dem Consumerpanel Media Scope soll die GfK untersuchen, wer aus welchen Gründen Kinder- und Jugendbücher kauft; insbesondere wird das Kaufverhalten jüngerer Zielgruppen im Buchmarkt erfasst. Weitere Fragen sind: Welche Rolle spielen Kinder- und Jugendbücher im Medienbudget der 10- bis 19-Jährigen? Wie intensiv werden Social-Media-Kanäle benutzt? Welche Rolle spielen Bibliotheken, englischsprachige Bücher und Formate digitalen Lesens wie WhatPad? "Wir wollen wissen, wie die Zielgruppe aktuell tickt", so Barbara Thieme. Nach zehn Jahren sei es absolut wichtig zu erfahren, wie sich das Konsumverhalten der Jüngeren verändert hat, sagte Kosmos-Buch Verlagsleiterin Birgitta Barlet, das Geld sei gut investiert. Zwei Drittel der Studie wird die avj bezahlen, ein Drittel der Börsenverein.

Sind die Lesefördermaßnahmen richtig adressiert?

Intensiv wurde über die Leseförderung diskutiert; die IGLU-Studie brachte keine besseren Ergebnisse als erwartet, das Gefühl von Stagnation sei überall greifbar, so die Runde. "Fest steht: Die Lesefähigkeit nimmt ab", sagte Barlet und berichtete von einer spontanen Diskussion zwischen Verlegerinnen auf der Internationalen Jugendbuchmesse in Bologna mit der Kernfrage: Sind die Lesefördermaßnahmen richtig adressiert? Viele gehen in Richtung von Haushalten, die bereits wissen, wie wichtig Lesen ist. Viel schwieriger jedoch sei, wie mit Lesefördermaßnahmen Kinder erreicht werden können, in deren Haushalten Bücher und Lesen überhaupt keine Rolle spielen. "An welchen Touchpoints können Kinder in Kontakt zu Büchern kommen?", so eine Überlegung, und: "Gibt es Beispiele aus anderen Ländern, die wir vielleicht übernehmen könnten?"

In der Analyse merkte Rowohlt Rotfuchs-Programmleiterin Christiane Steen an, dass leseferne Haushalte nur ein Teil des Lesekompetenz-Problems seien: "Wir müssen die gesamte Gruppe leseschwächerer Kinder betrachten, und da gibt es bei uns Kinder aus anderen Ländern, die die deutsche Sprache noch nicht so gut verstehen, aber sehr gerne Bücher lesen. Was ist mit denen? Da müssen wir uns fragen, welche Bücher wir ihnen anbieten können, was wir sprachlich und inhaltlich verändern müssen, um sie abzuholen."

Oft werde in der Leseförderung so weitergemacht wie immer – "aber wir merken ja längst, dass es in der Gesamtheit nicht funktioniert", konstatierte nicht nur Tessloff-Verlegerin Katja Meinecke-Meurer. Eine Erfahrung aus der Runde: Mit Podcasts lassen sich Kinder offenbar für Bücher interessieren. Die Belletristikverlage bei Projekten einzubeziehen sei wichtig, meinte Arena-Geschäftsführerin Alexandra Schönleben: "Denen fehlen in zehn, 15 Jahren dann die Leserinnen, die die sie dringend brauchen. Das Problem der zu geringen Lesekompetenz betrifft ja nicht nur uns Jugendbuchverlage, sondern ist ein gesamtgesellschaftliches Thema." In Italien seien Bibliotheken in Schulen gesetzlich verankert, "sie werden gefördert und mit pädagogischen Kräften ausgestattet", merkte Herzog an. Petra Albers, Verlagsleiterin Kinder- und Jugendbuch bei Beltz, setzte den Gedanken konstruktiv fort: "Wenn wir schauen, welche Länder in der IGLU-Studie gut abgeschnitten haben und uns die dortige Situation näher betrachten und welche Formen von Leseförderung es dort gibt – vielleicht lassen sich daraus Erkenntnisse für uns ableiten."

Kristy Koth griff Steens Gedanken des "passenden" Lesestoffs für Kinder auf und verknüpfte ihn mit dem aktuellen Boom im New Adult-Bereich: "Für diese Zielgruppe sind 400-seitige Bücher überhaupt kein Problem, aber sie haben in der Vergangenheit nicht gelesen. Jetzt sagen sie: In den NA-Titeln kann ich mich endlich wiederfinden!", ein Befund, der von vielen Verleger:innen bestätigt wurde. "Da müssen wir uns schon fragen: Haben wir sonst ein Angebot, das an den Interessen unserer Leser:innen vorbeigeht?" Dem schloss sich Albers an mit der Forderung, die Lesemotivation viel stärker in den Blick zu nehmen: "Neben den Kindern aus lesefernen Haushalten haben wir Kinder und Jugendliche, die die erforderliche Lesekompetenz haben, aber wenig motiviert sind. Bei NA kommt momentan auch eine Motivation von außen, durch BookTok, durch die Peergroup. Der Frage der Lesemotivation werden wir uns mehr widmen müssen."

Arbeitsatmosphäre: Blick in den Sitzungssaal der avj-Hauptversammlung 2023

Viele Themen – und viele Hände

Zu eng war der zeitliche Rahmen, so dass manche Themen nur angerissen werden konnten. Die ethischen Grenzen der KI etwa erkennen und gleichzeitig deren Chancen sehen: "Die Frage, ob ein Verlag KI zur Illustration einsetzt oder nicht, muss letztlich jeder Verlag für sich beantworten – aber die Diskussion darüber, der Austausch unter uns Mitgliedern führt zu Erkenntnissen", meinte Bernd Herzog. Weiter behandelt werden muss auch der Umgang der Jugendbuchverlage mit dem Nachwuchs. Die Kinderbuchbranche könne auch ein attraktiver Arbeitgeber sein, zumal sinnstiftende Arbeit bei den jüngeren Mitarbeiterinnen einen hohen Stellenwert habe. Darüber besser zu kommunizieren sei auch eine wichtige Marketingaufgabe – die vielleicht beim neuen Online-Auftritt der avj eine Rolle spielen kann. Calme Mara-Lektorin Hannah Schenk informierte in Überschallgeschwindigkeit über die Erkenntnisse der AG, die sich die alten Websites von avj und Kinder- und Jugendbuchverlage A-Z angeschaut und analysiert hatten. Eine abschließende Zustimmung, in welchem Umfang die Mitglieder finanzielle Mittel für einen Website-Relaunch zur Verfügung stellen, wird einer außerordentlichen Mitgliederversammlung vorbehalten bleiben. Sicher wird auch auf Regionaltreffen darüber diskutiert werden – in München, Wien und Hamburg haben bereits welche stattgefunden, angedacht sind auch Stuttgart, Bamberg und Zürich.

Die Arbeit des Vorstands wäre nicht denkbar ohne das "Office": Bernd Herzog dankte der Leiterin der Geschäftsstelle, Laura Simanjuntak, für ihre erstklassige Arbeit – während der Sitzung hatte sie stets en passant darauf hingewiesen, welche Formalia nun unabänderlich durchgeführt werden mussten. Simanjuntak wird Ende Juni in der Geschäftsstelle aufhören, Geschäftsführerin wird dann die zuletzt bei Bookwire tätige Barbara Müller. Auch Volontärin Annika Nasel wurde herzlich verabschiedet, sie fängt im Sommer bei Argon an. Ebenso dankte Herzog Renate Reichstein, "die sich weiterhin unermüdlich für uns für das Verlegerrecht einsetzt". Mit den AGs zusammen wurde deutlich: Die avj, das sind am Ende doch viele Hände.