Nationaler Lesepakt

Noch ist nichts gewonnen

21. Mai 2021
von Börsenblatt

Statt einen klaren Finanzierungsplan aufzustellen, sollen Ehrenamtliche die Leseförderung mal nebenbei wuppen? Das wird nicht gelingen, meint der Vorsitzende des Arbeitskreises für Jugendliteratur, Ralf Schweikart. Es braucht einen politischen Auftrag.

Ja, wir sind dabei. Als Arbeitskreis für Jugendliteratur leisten wir seit 1955 unseren Beitrag, Kinder und Jugendliche fürs Lesen zu begeistern. Auch deshalb gehören wir zu den vielen Partnern des Nationalen Lesepakts, sind die Kachel Nummer sechs zwischen avj und ARD, im großen Reigen von der ADAC Stiftung bis zum Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie. "Wir machen mit", wie es auch auf den beiden Plakaten zur Initiative so schön auffordernd heißt. Wenn wir nur so recht wüssten, wobei.

Irgendwie will der Nationale Lesepakt ja mit Wucht gegen die steigende Zahl an Kindern wirken, die ohne umfassende Lesefähigkeit die Grundschulen verlassen, wie die IGLU-Studie deutlich macht. Andererseits verweist man auf einen Anteil an funktionalen Analphabeten unter Erwachsenen, die man dabei nicht vergessen will. So richtig entschieden ist es nicht, wer oder was nun wirklich angepackt werden soll. Dabei wäre die Konzentration auf eine Gruppe – die der Kinder – schon mal zielführender.

Statt ja keinen zu vergessen, müsste das magische Dreieck Schule, Kinder, Lesen im Mittelpunkt stehen und Maßnahmen dort ansetzen. Denn im Regelfall können gerade die Kinder schlechter lesen, deren Eltern wenige Berührungspunkte zum Lesen und zu Büchern haben. Da nutzt der Weg über Eltern nichts. Und die Erwachsenen, die nicht lesen können? Sind eh schwierig und nur über Umwege zu erreichen.

Es braucht einen klaren Finanzierungsplan

Der Erfolg des Nationalen Lesepakts sollte sich also nicht allein an einem organisierten Summit, vielen Kacheln mit Partnern und an der Menge der nachgeorderten und insgesamt erreichten Sichtbarkeit der beiden Plakate festmachen. Davon liest noch kein einziges Kind besser oder lieber. Nicht der mediale Nachhall der drei Paukenschläge Lesepakt-Gründung, Lesesummit, Plakataktion ist die Wirkung, sondern die entfaltet sich mit dem orchestralen Werk, das jetzt einsetzen muss. Denn die bislang von den Initiatoren inflationär verwendeten Begrifflichkeiten wie "sensibilisieren", "Aktivitäten entfalten", "stark machen", "bündeln", "zusammenfassen" klingen wolkig nach Ausweichen, aber nicht nach Machen und Tun und konkreten Zielen. Ganz im Gegensatz zum glasklar formulierten Anspruch "Jedes Kind muss lesen lernen" von Kirsten Boie in der Hamburger Erklärung. Das war übrigens 2018.

Darum erinnere ich an die nicht einen Deut erfüllte Forderung, dass neben gutem Willen und dem gemeinsamen wie einfach herzustellenden Schulterschluss auch finanzielle Mittel und Professionalisierung notwendig sind. Ich ziehe immer wieder gern den Vergleich zum Digitalpakt: Der beinhaltet eben auch nicht die Idee, dass Eltern ihre ausgemusterten Rechner den Schulen schenken und zur Installation oder dem Update mal eben die Großeltern vorbeikommen und das so nebenbei erledigen. Sondern einen klaren Finanzierungsplan. Wenn wir von Digitalisierung als Schlüsseltechnologie für die Zukunft sprechen, was ist dann erst die Lesefähigkeit?

Der politische Auftrag muss formuliert werden

Nur einen Schritt weiter gedacht: Diejenigen, die am Ende der vierten Klasse nicht sinnerfassend lesen können, werden sicher nicht diejenigen sein, die später mal intuitiv zu bedienende Lernapps programmieren und herausragende pädagogische Konzepte für Tablets im Schulunterricht entwickeln. Und noch ein zweiter Schritt: Das Geld, das Bundesbildungsministerin Anja Karlizcek jetzt nicht in die Förderung der Lesefähigkeit steckt, zahlt die Staatsministerin für Kultur und Medien Monika Grütters eben später als Förderung an die Verlage, wie eine Studie aus dem März 2021 gerade in Bezug auf kleine Verlage empfiehlt. Weil immer weniger Menschen Bücher kaufen und einen persönlichen Nutzen im Lesen sehen.

Es ist also noch nichts gewonnen. Dagegen suggeriert der nun installierte Nationale Lesepakt ein konzertiertes und zielgerichtetes Handeln - ohne je konkrete Ziele und den Weg für ihre Umsetzung definiert zu haben. Der Nationale Lesepakt darf nicht dazu dienen, einen politischen Auftrag aus den Augen zu verlieren und in die Hände anderer, von Stiftungen bis Freiwilligeninitiativen, zu legen. Bildung kostet. Und mich Nerven, wenn ich im Spätsommer wieder die Plakate sämtlicher Parteien vor mir sehe, wie sie unisono ein Mehr für Bildung (mehr Lehrer:innen, bessere Ausstattung, modernere Schulen etc.) fordern, wie vor jeder Wahl. Um dann vier oder fünf Jahre zu warten, um nach bleierner Zeit den Missstand erneut anzuprangern. Wo bleibt da der politische Handlungswillen?

Also reiten wir weiter als große Herde williger Partner gegen die Windmühlen an. Unterstützen wir die Idee des Lesepakts in dem Wissen, dass wir damit allein noch nichts gewonnen haben. Und suchen wir nach Wegen, es gemeinsam besser zu machen.

 

Ralf Schweikart ist Vorsitzender des Arbeitskreises für Jugendliteratur AKJ, Publizist und Kinder- und Jugendliteraturexperte