Ich sah nur die Folgen, mit denen wuchs ich auf. 1989, als ich eingeschult wurde, wurde unser Schuldirektor drei Monate nach Schulbeginn auf offener Straße mit einem Messer niedergestochen. Er hatte zufällig keine Zigaretten dabei, nach denen er gefragt worden war. Auch ans Fenster durfte man an Silvester niemals treten, weil der eine oder andere Querschläger in unserer Nachbarschaft für Verletzungen gesorgt hatte. Dunkel und kalt war es sowieso, Strom und Heizung waren ein rares Gut. (Eine nützliche Erfahrung, wie ich heute feststelle, und ich kann an dieser Stelle tröstend sagen: Man kommt ohne russischen Gas durchaus aus, wir haben schließlich auch überlebt!)
Dass meine Kindheit eine ziemlich unnormale, für die meisten Menschen sogar eine schrecklich anmutende war, begriff ich so recht erst in Deutschland. Ich begriff erst hier, dass ich aus einer Welt komme, die sich selbst in den Untergang getrieben, sich selbst zerfleischt hat und die in einen Gewaltreigen mitgerissen wurde.
Und dann, Jahre später und längst meiner Kindheit entwachsen, gar in einem anderen Land lebend, kam mir vor diesem unheilverkündenden Fernseher genau dieser Gedanke: Die Geschichte wiederholt sich, die Vergangenheit hat erneut ihre Krallen ausgefahren und nach der Gegenwart gegriffen, und die Gegenwart ist einmal mehr zu schwach, zu fragil, um ihr Widerstand zu leisten.
An jenem Morgen im August sah man die Bilder von russischen Panzern, die durch einen endlosen Tunnel fuhren. Es folgte die Mobilmachung der lächerlich wenigen georgischen Streitkräfte. Dazwischen die bunten, glitzernden Bilder von der Olympia-Eröffnung. Panik. Tage wie im Wahn. Russische Bomber am Himmel. Überall. Vierundzwanzig Stunden am Tag, der Himmel niemals frei, niemals still. Hamsterkäufe. Evakuierungsversuche aus den Grenzdörfern. Flüchtlingsströme, noch mehr aus dem eigenen Land vertriebene Menschen. Alles genauso wie damals. Der einzige Unterschied: Ich war kein Kind mehr. Zu meinem großen Unglück verstand ich mehr, als mir lieb war. Voneinander getrennte Eltern und Kinder, weil die Landesmitte unpassierbar geworden war. Weil dazwischen die Russen waren. Weil dazwischen Gori, Stalins Geburtsstadt, zerbombt wurde, alles, bis auf das Stalinmuseum. Die ersten Leichen. Die Schließung des Flughafens. Die E-Mails meiner bestürzten Freunde aus Deutschland. Meine Versuche, die Lage für sie und für ein paar deutsche Zeitungen zusammenzufassen. Die Unmöglichkeit dessen. Meine absolute Überforderung. Und dann die erste Bombe auf Tbilissi im Morgengrauen, deren Einschlag der größte Schreck meines Lebens war. In der Zeit, die ich brauchte, alle abzutelefonieren und herauszufinden, dass man einen Militärstützpunkt und keine Wohnhäuser bombardiert hatte, glaubte ich, einen Herzinfarkt zu erleiden.
Und heute, dreizehn Jahre später, geht das alles anderorts weiter. Während bei uns Regen oder Schnee fällt, fallen woanders Bomben. Und dieses "woanders" ist kein anonymer Ort im Fernsehen, es ist ein Land, so konkret und so real wie Deutschland oder Georgien oder jedes andere Land auf diesem Planeten. In diesem Land leben Menschen wie wir. Auch sie leben und träumen, auch sie fühlen und suchen, auch sie sind gebrandmarkt von Abschieden und von Begegnungen. Von Überschneidungen und Zufällen. Auch sie küssen und vergießen Tränen. Auch sie lieben das Meer oder die beruhigende Wirkung von knisterndem Holz im Kamin. Auch sie sind geprägt von ihren Talenten und ihrem Scheitern.
Und diese Menschen kämpfen gerade um ihr Überleben. Und um weitaus mehr, als nur das. Sie kämpfen für die Freiheit und für all die Werte, die uns hier, da bin ich mir ziemlich sicher, alle im Wesentlichen vereinen. Und ja, vielleicht ist jetzt genau der richtige Zeitpunkt, uns auf das besinnen, was uns eint. Nicht, auf das, was uns trennt.
Denn Sicherheit ist eine Illusion. Das habe ich damals vor dreizehn Jahren bitterlich begriffen. Alles kann sich von einem Augenblick auf den anderen ändern und keine Versicherung, keine Richtlinie, keine Kalkulation kann einen davor schützen.
Diese Lektion werde ich nie mehr vergessen. Deswegen danke ich weiterhin allen Menschen, die etwas riskieren, ob in der Kunst, im Leben oder im Krieg. Wir alle haben unterschiedliche Kämpfe auszutragen – mit unterschiedlichen Einsätzen.
Gerade ist es an den Ukrainerinnen und Ukrainern, ihr Leben zu riskieren, und wir können einfach nur froh und dankbar sein, dass wir das Glück haben, hier zu sein. Nur ein Urlaub trennt uns manchmal vom Krieg, vom Grauen, von dem Einbruch jeder zivilisatorischen Decke, die für manche Menschen nur ein Überwurf ist, den man nach Belieben einfach zur Seite schieben kann. Zum Beispiel für den russischen Präsidenten und seine blutrünstige Gefolgschaft, die seit dreiundzwanzig Jahren nicht satt wird: an Geld, an Macht, an Blut, an weiteren Territorien, die es zu zerstören und einzuverleiben gilt.
Vor zwei Tagen schlug eine weitere russische Rakete in ein Wohnhaus in Dnipro ein und tötete fünfundvierzig Menschen. Einfach so. Von einem Augenblick auf den anderen. Dieses Grauen geht weiter und weiter und weiter, und dieses mutige Volk hält stand, und wie kann ich heute Abend nicht dankbar sein – diesen Menschen, die seit über einem Jahr diesem Horror standhalten, die die Hoffnung nicht verlieren und die uns daran erinnern, dass wir nie mehr zurückwollen: in die Tyrannei und in die Diktatur.